PARAFIKTION –
IM ZWEIFEL FÜR DEN ZWEIFEL

Wer sich mit Kunst und Fotografie beschäftigt, findet vieles erklärungsbedürftig. BASICS stellt Begriffe und Techniken vor, die jede*r kennen sollte. VON HALLE4-AUTOR*INNEN

25. März 2021

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Ausgehend von der großen Bandbreite an Infotainment-Formaten, die uns auf verschiedenen medialen Kanälen angeboten werden, zählt die Verknüpfung von Dokumentarischem und Fiktivem schon längst zu unseren Sehgewohnheiten. In der Kunst handelt es sich jedoch um eine eher neue Ausdrucksform: die Parafiktion.

Die Kunsthistorikerin Carrie Lambert-Beatty forscht seit Ende der 2000er-Jahre zur Parafiktion in der Kunst. Sie schreibt, dass Parafiktion mit der Kategorie der Fiktion verwandt ist, die wir aus der Literatur und Film kennen, aber nicht dazugehört. Die Wurzel der Parafiktion liegt also im frei erfundenen Bereich. Sie erhebt aber den Anspruch, die Realität abzubilden. Das Gezeigte kann auf Fakten und historisch korrekter Wiedergabe basieren, muss es aber nicht. Laut »mit einem Bein im Bereich des Realen«.

Etwas klarer wird der Begriff wohl in Abgrenzung zur »Dokufiktion«: Nehmen wir an, wir schauen uns eine Dokumentation über den Frühmenschen Homo erectus an, der sich auf dem afrikanischen Kontinent entwickelte und sich bald in Ostasien, unter anderem im heutigen China, ausbreitete. Wir sehen Bilder der unberührten chinesische Wälder, die für die Dokumentation abgefilmt wurde. Plötzlich laufen einzelne Exemplare des Homo erectus durch den Wald, auf der Suche nach Essbarem. Wir wissen, dass es um eine Fiktion handelt. Entweder werden die Frühmenschen von Schauspieler*innen verkörpert oder sie sind durch Computeranimationen erzeugt worden.

Diese Verbindung von Dokumentation und Fiktion nennt sich treffenderweise Dokufiktion. Sie ist hauptsächlich dokumentarisch und damit sehr nah an der Realität, nutzt aber fiktive Elemente zur Veranschaulichung des im Film Erklärten.

Die Parafiktion hingegen ähnelt eher einem Spielfilm, dessen Großteil von den Zuschauer*innen als fiktiv erkannt wird. Es wird der Eindruck erzeugt, als handle es sich um etwas real Dokumentiertes. Auch wenn es bei der Dokufiktion zunächst ähnlich aussieht, so ist das Rezeptionsziel ein völlig anderes. In parafiktiven Werken geht es nicht um die Untermauerung des Realen, sondern um den Wahrheitsanspruch des Fiktiven. Im Mittelpunkt steht die Frage, ob etwas plausibel erscheint und weniger, ob eine absolut korrekte Tatsache dargestellt wird. Für den kurzen Zeitraum, in dem wir eine Parafiktion wahrnehmen, wird sie mehr oder minder als wahr angesehen.

Die aus Portugal stammende Regisseurin Salomé Lamas verwendet den Begriff selbst, um ihre Arbeit zu beschreiben. In Filmen wie Terra de Ninguém / No Man’s Land (2012), Eldorado XXI (2016) oder Extinction (2018) spielt sie bewusst mit der menschlichen Urteilskraft über vermeintlich objektiv Erzähltes. In ihren Geschichten von peruanischen Arbeiter*innen, politischen Verhältnissen in Russland zu Zeiten der Krim-Annexion oder Befreiungskriegen in Mosambik und Angola, erschafft Lamas mit den Darstellungsformen des Berichts, der Wiedergabe von Erinnerungen und der Selbstinszenierung mehrere Deutungsebenen, die die Grenzen zwischen realen und fiktiven Welten scheinbar verschwinden lassen.

Ein Blick auf die Herkunft des Wortes verstärkt diesen Aspekt: Der Terminus »Parafiktion« hat lateinischen und griechischen Ursprung. Die »Fiktion« kann man als »Gestaltung« verstehen, aber auch als etwas »Erdachtes«. So greift sie das kreative Moment auf und enthebt sich zugleich der Realität. Die griechische Vorsilbe »para« ist gleichzusetzen mit »bei« oder »nebenher«. Alles, was also als Parafiktion bezeichnet wird, liegt demzufolge nahe am Fake, ist nicht aber nicht vollständig erdichtet.

Das Parafiktive als künstlerische Ausdrucksform hat ästhetisch oft auch etwas Traumwandlerisches, Transzendentales. Im Traum halten wir die fiktiven, konstruktiven Auswüchse unseres Unterbewusstseins für die Realität. Alles, was wir verarbeiten, basiert jedoch wiederum auf der Summe unserer gesammelten Erlebnisse und sinnlichen Reize, etwas mehr oder minder Realem. Parafiktionen möchten dabei Glaubwürdigkeit erzielen und uns in ihren Bann ziehen.

Omer Fast, Still aus dem Film AUGUST, 2016. 3D-Film mit Sound, 15:30 min. Im Auftrag von Martin Gropius Bau/ Berliner Festspiele. Foto: © Filmgalerie 451/ Stefan Ciupek/ Julia M. Müller

Der israelische Videokünstler Omer Fast bedient sich in seiner mehrkanaligen Video-Installation August (2016), die zurzeit im PHOXXI. Haus der Photographie temporär zu sehen ist, des realen Lebens des berühmten Fotografen August Sander. Omer Fast verwebt die Rekonstruktion der von Sander erlebten Situationen mit der Fiktion eines alten, fast blinden Mannes, der diesen Erlebnissen und Menschen in Halluzinationen wiederbegegnet. So entsteht der Eindruck, es handle sich um dokumentarisch-biografische Erzählungen hinter den Fotografien. Die Verwendung der 3D-Technik verstärkt diese Interpretation umso mehr, weil diese Technik auf der Stereotypenfotografie mit blauem und rotem Filter basiert, welche schon zu Lebzeiten August Sanders praktiziert wurde.

Für Fast, der in früheren Arbeiten oft selbst in seinen Filmen in unterschiedlichen Rollen auftritt, ist das Dokumentarische immer schon mit dem Performativen und der Fiktion verbunden.

Eine sinnliche Ekstase an der Grenze zur Fiktion ereilt die Betrachter*innen beim Anblick des Werks Nightlife (2015), das der französische Videokünstler Cyprien Gaillard ebenfalls in 3D-Technik und mittels Soundloop erschuf. Darin sehen wir an realen, menschenleeren Plätzen in Cleveland, Los Angeles und Berlin, wie sich Bäume und Sträucher im nächtlichen Laternenlicht organisch und seltsam lebendig an Zäunen reiben, so als wäre es Aufnahmen eines Sturms, die man in Zeitlupe abspielt.

Wir benötigen eine Weile, bis wir begreifen, dass diese Bilder nicht zur uns bekannten Realität gehören, und doch bleibt am Ende immer noch ein Stück Restzweifel übrig, der uns glauben lässt, unsere Sinne täuschten uns darüber hinweg. Warum eigentlich nicht? Es existieren unzählige Fiktionen, aber auch etliche Realitäten. Von Zeit zu Zeit kann es ein großer Genuss sein, sich parafiktiv erstaunen zu lassen.

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Dominik Nürenberg ist Volontär der Abteilung Kommunikation der Deichtorhallen Hamburg. Zuvor studierte er Kulturwissenschaft an der Universität Koblenz-Landau und Interdisziplinäre Medienwissenschaft an der Universität Bielefeld und war als freier Kulturschaffender, Redakteur und Gästeführer tätig.


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