Foto: Julia Steinigeweg

»Der Klimawandel ist
wichtiger als Trump«

Nahezu pausenlos bereist der Magnum-Fotograf Paolo Pellegrin die Krisengebiete dieser Welt. Seine Bilder zeigen Krieg und Zerstörung, aber auch die Schönheit und Fragilität der Menschheit im Angesicht existentieller Bedrohung. Ein Gespräch über die Schönheit der Natur, fotografische Vorbilder und seine Bewunderung für Greta Thunberg VON CARLA ERDMANN

30. Oktober 2019

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Viele Ihrer Bilder zeigen großes Leid, Konflikt oder Krisen. Hinterlässt so etwas Spuren?
Über diesen Aspekt meiner Arbeit denke ich sehr viel nach. Es ist mir sehr bewusst, wie zerbrechlich die Menschheit ist, der ich in diesen extremen Situationen begegne. Ich versuche mit dieser Tatsache immer behutsam umzugehen. Es ist immer mit großen Anstrengungen verbunden, mein Gegenüber darzustellen, vor allem wenn es sich so verletzlich zeigt. Dessen bin ich mir sehr bewusst und ich versuche die Person so gut wie möglich zu behandeln.

Ein gutes Beispiel ist das Leitmotiv, das Sie für Ihre Ausstellung UN’ANTOLOGIA in Hamburg ausgewählt haben. Aufgenommen haben Sie es 2006 in Beirut. Wie kam es dazu und woher wussten Sie, dass Sie diesen Moment festhalten müssen?

Das Bild entstand kurz nach der israelischen Bombardierung eines Stadtviertels in Beirut. Dieser Angriff hat zahlreiche Gebäude dem Erdboden gleichgemacht. Das Bild zeigt einen Mann kurz bevor er den toten Körper seiner Tochter entdeckte. Für mein Gefühl ist es ein Bild, das als Vermächtnis für all das Leiden und die Konflikte dienen kann.

In Ihrer Ausstellung im Haus der Photographie steht der Mensch im Mittelpunkt, zum anderen zeigen Sie Ihren Blick auf die Natur. Wie lässt sich das Konzept der Ausstellung und die besondere Präsentation, die Sie für die Deichtorhallen konzipiert haben, beschreiben?

Ein großer Teil meiner Arbeit ist sozialdokumentarisch. Ich spreche gesellschaftliche Themen an. Es war uns immer klar, dass dies einen großen Teil der Ausstellung ausmachen sollte. In den letzten Jahren begann mich der Klimawandel zunehmend zu beunruhigen ­– nicht nur als Fotograf und Bürger, sondern auch als Vater zweier Töchter. Mir war klar, dass ich das wichtigste Thema unserer Zeit ansprechen und künftigen Generationen davon berichten muss.

Paolo Pellegrin: ANTARKTIS, 2017. NASA IceBridge-Flug zur Erfassung des
Klimawandels in der Antarktis. Luftaufnahmen von einem NASA P3-Flugzeug,
das über die Südhalbinsel A fliegt. © Paolo Pellegrin/Magnum Photos













»Einmal flog ich mit der NASA und war überwältigt von der Schönheit, die ich sah – das war ein absoluter Schlüsselmoment
für mich.«

Gab es für Ihre Beschäftigung mit dem Klimawandel ein auslösendes Moment?
Einmal flog ich mit der NASA und war überwältigt von der Schönheit, die ich sah – das war ein absoluter Schlüsselmoment für mich. Die Landschaft wirkte beinahe übersinnlich. Ich dachte darüber nach, wie ich andere dafür gewinnen kann, selbst aktiv zu werden. Unsere individuellen Entscheidungen können uns dazu bringen, etwas zu tun. Auf globaler Ebene werden wir wenig verändern, aber aus der Summe unseres Handelns kann eine kritische Masse entstehen. Ich spürte eine große Dringlichkeit, dieses Thema zur Sprache zu bringen und das führte schließlich dazu, dass es zu einem Teil der Ausstellung wurde.

Wie könnte die Lösung aussehen?

Ich habe da wirklich keine Lösung parat, sondern denke darüber nach, wie ich fotografiere. Man muss Wege finden, um Menschen das Thema Klimawandel näherzubringen. Ich versuche mich eher mit der Schönheit der Natur zu befassen. Schönheit ist etwas, auf das wir bewusst und unbewusst reagieren. Sie kann von moralischem Wert sein.

Wie kommen ihre Motive zustande? Gibt es einen intellektuellen Zugang oder verlassen Sie sich auf ihre Intuition?
Ich denke, die Spannung zwischen beidem macht es aus. Ein Teil von mir ist reaktiv und beweglich, insbesondere dann, wenn ich auf das reagiere, was direkt von mir passiert. Die andere Seite ist das Resultat eines intellektuellen Prozesses, den ich in diese Situation einbringe. Ich würde sagen, Intuition und Intellekt bedingen einander.

Wie schaffen Sie es, immer wieder in Kriegsgebieten unter schwierigsten Bedingungen zu fotografieren?

Ich habe mich selbst nie als Konflikt- oder Kriegsfotografen gesehen. Ich habe die Tatsache akzeptiert, dass man sich in solchen Situationen einem gewissen Risiko aussetzt. Das gehört dazu. Ich versuche immer vorsichtig vorzugehen, aber gleichzeitig gibt es diesen Drang, genau hinzusehen und zu dokumentieren. Es gibt ein Verlangen, Zeuge von etwas zu sein. Im Nachhinein betrachtet, hatte ich wohl ziemlich viel Glück.

Sind Sie jemals ernsthaft verletzt worden?

2006 berichtete ich auf der libanesischen Seite von dem Krieg zwischen Israel und der Hisbollah. Ich wurde von einem Schrapnell getroffen.

Paolo Pellegrin: LIBANON. Beirut. August 2006. Wenige Augenblicke, nachdem ein israelischer Luftangriff mehrere Gebäude in Dahia zerstörte. © Paolo Pellegrin/Magnum Photos

Wie hält man so etwas aus?
Was dabei hilft, diese Situationen durchzustehen, ist, zu funktionieren, der Grund, warum man vor Ort bist: um Fotos zu machen, Beweisstücke zu sammeln. Das ist der Grundstein all dieser Erfahrungen. Ich bezweifle aber, dass meine Fotografie wirklich etwas verändert, auch wenn durch sie durchaus so etwas wie eine kritische Masse entstehen kann. In diesem Zusammenhang wird immer der Vietnamkrieg zitiert, in dessen Verlauf die Fotografie eine ganze Bewegung begründete. Ich fühle mich als Fotograf gemeinsam mit Schriftstellern und Filmemachern als Teil einer solchen Bewegung. Meine Bilder können Teil eines Archivs, eines kollektiven Gedächtnisses und damit Teil unserer Erinnerungskultur werden. Im Zuge dieses nicht endenden Prozesses werden sie so zu Zeugnissen unserer eigenen Erfahrungen.

Wer hat Ihre Art der Wahrnehmung beeinflusst?
Natürlich hatte ich Vorbilder in der Fotografie, meine »fotografischen Väter«. Joseph Koudelka gehört sicher dazu, außerdem Gilles Peress und Larry Towell. Wenn man den Auslöser betätigt, eine kleine Geste eigentlich, verleiht man der Summe seiner Erfahrungen eine Stimme. All den Dingen, die man gesehen hat, Filme, Bücher, die man gelesen, Menschen, die man geliebt hat. Deine Lebenserfahrung überträgt sich auf deine Vision, deine Art zu sehen.

Fühlen Sie sich anderen Kunstformen wie zum Beispiel dem Kino verbunden? Nicht wenigen Fotografen geht es ja so…

Stanley Kubrick hat mich sehr inspiriert, genauso wie der italienische Neo-Realismus, die Filme von Andrei Tarkovski, aber auch Hollywood-Filme. Das Kino hat mich generell sehr beeinflusst, genauso wie die Literatur. Ich bin ein passionierter Leser. Die Literatur kann so anregend sein. Meine Einflüsse sind also sehr vielfältig. Ich sollte auch noch erwähnen, dass mein Vater mich und meine Schwester dahingehend regelrecht trainiert hat. Als wir in Rom aufwuchsen, nahm er uns jeden Sonntag mit, damit wir uns Werke von Künstlern wie Bernini, Borromini und Caravaggio ansehen. Das wurde dann sozusagen zu meinem »Reisegepäck«.

Paolo Pellegrin während des Aufbaus seiner Ausstellung UN'ANTOLOGIA im Haus der Photographie. Foto: Julia Steinigeweg















»Meine Idee von Fotografie ist, dass ich nicht das letzte Wort haben möchte.«

Sie sagten einmal, Sie seien eher an »unfertiger« Fotografie interessiert. Was hat es damit auf sich?
Ich war immer an Fotografie interessiert, die einen Dialog ermöglicht. Es gibt wundervolle Fotos, die man sich gerne ansieht, die mich aber nicht wirklich berühren oder verändern. Daher war ich immer an Fotografie interessiert, die den Betrachter einbezieht. Das gilt bei mir für die Kunst im Allgemeinen. Wenn du die Sixtinische Kapelle besuchst, kommst du verändert wieder heraus. Es geht also nicht nur um die Schönheit der Kunst, sondern auch um ihre Kraft, wie ein Samenkorn etwas in deinem Innern wachsen zu lassen.

Aber wie steht es in Ihrem Werk um den Dialog mit dem Betrachter?

Meine Idee von Fotografie ist, dass ich nicht das letzte Wort haben möchte. Ich bin an bestimmten Themen interessiert und ich möchte meine Vision davon zeigen. Ich möchte, dass sich der Betrachter dieselben Fragen stellt, wie ich es getan habe. Ich glaube, dass mir das gelingt, indem ich Bilder schaffe, die dem Betrachter einen Raum bieten, in das Bild einzutauchen und sich damit auseinanderzusetzen. Das Bild ist eine Einladung zum Dialog. Die Fotografie wird lebendig, wenn sie diese Möglichkeit bietet ­– nicht nur dem Fotografen, sondern auch dem Betrachtenden. Eine Fotografie ist nur dann vollendet, wenn man sie ansieht. Der Betrachter schließt den Kreis.

UN’ANTOLOGIA wurde ursprünglich für das MAXXI in Rom von Germano Celant kuratiert. Wie entstand die Idee zur Ausstellung?

Ich lernte Germano durch meinen Verleger kennen. Er interessierte sich für mein Werk, so begannen wir dieses Projekt gemeinsam. Ich habe 30 Jahre lang ohne Pause gearbeitet. Das hat mich vollkommen absorbiert, immer wartete schon das nächste Projekt auf mich. Ich bin Germano sehr dankbar für diese Zusammenarbeit. Mir wurde dadurch überhaupt erst bewusst, wie viele Arbeiten ich über die Jahre geschaffen hatte. Ich habe in meinen Archiven dann alles gesichtet. Daraus wurde dann so etwas wie eine Obsession.

Wie haben Sie die Auswahl der Motive für die Ausstellung getroffen?

Wir haben gleichzeitig an einem Buch gearbeitet. Germanos Ansatz war eher philologisch: Er wollte etwas über den eigentlichen Prozess erzählen, darüber wieso und wie man überhaupt arbeitet. Er rekonstruierte meine gesamte Existenz, ging zurück zu den Einflüssen aus meiner Kindheit und Jugend. Filme, Bücher, Bilder – all das wurde von ihm miteinbezogen, um meine künstlerische Identität, meine Art zu sehen, nachzuvollziehen.

Paolo Pellegrin: USA. El Paso, Texas. 2011. Zwei Männer, die versuchten, illegal in die USA einzureisen, laufen durch das trockene Flussbett des Rio Grande zurück nach Ciudad Juárez,
Mexiko, nachdem sie von der amerikanischen Grenzkontrolle entdeckt worden waren. © Paolo Pellegrin/Magnum Photos

Die Ausstellung in Hamburg wird durch weitere Arbeiten ergänzt, die nicht Teil der Ausstellung im MAXXI waren. Welche Arbeiten haben Sie für Hamburg ausgesucht und warum?
In Hamburg haben wir mehr Platz als in Rom. Ich wollte die Ausstellung diesem Raum anpassen. Ich habe über die Migrationskrise gearbeitet, aber die Arbeiten bisher nicht gezeigt. Also habe ich dazu einige Serien zusammengestellt. Die Idee dieser Ausstellung, die hoffentlich weiterziehen wird, besteht darin, einige Serien wieder herauszunehmen und andere hinzuzufügen. Ich bin also gerade sehr aktiv, dadurch kann sich immer wieder etwas verändern. Es ist also keine Retrospektive.

Eher eine Momentaufnahme.

Absolut. Mir gefällt, dass sich die Ausstellung mit jedem Ort verändern wird. Im Mittelpunkt steht die Nachbildung meines Studios. Ich gebe Einblicke in den kreativen Prozess, der eher wie ein Workshop funktioniert. Ich komme aus der analogen Welt, daher ist alles sehr gegenständlich: Es gibt Wände, an denen Materialien und Dokumente mit Pins und Klebestreifen befestigt sind oder Sequenzen von Prints, Entwürfen und Layouts. Ich glaube, es ist sehr wichtig meinen Denkprozess zu verstehen. Man sieht nicht das finale Resultat, aber es erlaubt dem Betrachter einen Schritt zurückzutreten und einen Blick in mein Labor zu werfen. Das alles geschieht in einer Installation in Form eines Eisbergs. Der Eisberg verweist eindeutig auf das, was gerade an den Polen geschieht.

Der Klimawandel als nächster großer Kriegsschauplatz?

Der Klimawandel ist wichtiger als Donald Trump oder ISIS. Natürlich wird es weiterhin Krisengebiete und Kriegsschauplätze auf der Welt geben. Aber als Menschen bewegen wir uns mit dem Klimawandel auf unbekanntes Terrain zu. Wie wir mit der Erde umgehen, ist bisher ohne Beispiel.

Sie setzen also ihr Können als Fotograf ein, um Menschen zum Nachdenken über den Klimawandel zu bringen.

Es gibt andere, die dazu viel besser in der Lage sind als ich. Was Greta Thunberg getan hat, ist herausragend – allein vor dem schwedischen Parlament zu demonstrieren. Innerhalb eines Jahres ist sie derart massiv in den Mittelpunkt der öffentlichen Wahrnehmung gerückt. Das ist beeindruckend. Ich tue, was ich kann, um diese Themen anzusprechen. Wir haben es hier mit einem Konflikt neuen Ausmaßes zu tun, es geht um existenzielle Fragen. Fotografie kann Auseinandersetzungen in Gang bringen. Ich mache Fotos mit dem Hintergedanken an das Gegenüber, den Betrachter, damit diese Bilder zu einem Samenkorn werden können.

Die Ausstellung PAOLO PELLEGRIN – UN'ANTOLOGIA ist noch bis zum 1. März 2020 im Haus der Photographie zu sehen. Am Dienstag, 19. November 2019 ist Paolo Pellegrin zu einem Künstlergespräch mit Christoph Amend, Chefredakteur des ZEITmagazins und Herausgeber Weltkunst, DIE ZEIT, zu Gast. Das Gespräch beginnt um 19 Uhr im Haus der Photographie.


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