Foto: Thies Rätzke

»Ich bin kein Beatles-Fan«

Der amerikanische Konzeptkünstler Rutherford Chang hat über 2000 Exemplare des White Album der Beatles aufgekauft. Seine Installation We Buy White Albums ist derzeit in den Deichtorhallen zu sehen. Ein Gespräch über Vergänglichkeit, Plattensammler und Unikate in der Kunst INTERVIEW: MAX DAX

4. April 2019

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Max Dax: Habe ich dir erzählt, wie ich auf dich aufmerksam wurde?
Rutherford Chang: Nein, bisher nicht.

Ich habe einen Post deiner Installation We Buy White Albums auf Instagram gesehen.
Tatsächlich? Ich benutze Instagram, um meine Sammlung zu katalogisieren.

Das konnte nur so passieren, weil wir im digitalen Zeitalter leben. Dein Shop hingegen ist völlig analog. Du kaufst gebrauchte Kopien vom White Album der Beatles. Bist du ein Fan der Band?
Ich bin kein Beatles-Fan. Es war Richard Hamiltons Cover, das mich interessierte. Sein Design ist bis heute bemerkenswert – dieses komplett weiße Cover mit einer Seriennummer. Die Seriennummer hinzuzufügen, war eine absurde Geste, da Millionen dieser Alben verkauft wurden und es damit weit davon entfernt ist, ein Kunstwerk in einer limitierten Auflage zu sein. Das White Album ging vor einem halben Jahrhundert als leeres Quadrat in die Welt, und jedes Exemplar wurde mit der Zeit zu einem einzigartigen Objekt. Sie alle tragen die Zeichen der Alterung, die sich auf ihnen angesammelt haben – Schmutz, Schimmel, Abnutzung. Sie sind so alle zu Unikaten geworden. Diese anfangs identischen Multiples sind einzigartig geworden, und ich wollte sie zusammenbringen. Deswegen begann ich, sie zu sammeln. Ich frage mich immer, was Richard Hamilton von meinem Projekt gehalten hätte. Leider lebt er nicht mehr, aber ich denke, dass er vorhergesehen hat, dass so etwas früher oder später mit seiner Idee passieren würde. Als konzeptionelles Cover lädt es zu einer konzeptionellen Weiterführung ein.

Was hat es mit den Seriennummern auf sich?
Die erste Auflage von 1968 ist nummeriert, obwohl Auflagen aus einigen Ländern – in Deutschland beispielsweise – Nachpressungen bis in die frühen Siebzigerjahre fortzählten. Einige Pressungen haben Buchstaben oder Symbole vor der eigentlichen Seriennummer, andere nicht. Pressungen aus verschiedenen Ländern wiederholen einige Zahlen, aber im Grunde laufen die Seriennummern weiter bis über drei Millionen. Das sind die Exemplare, die ich sammle: ausschließlich die nummerierten Exemplare. So stelle ich sie auch aus – wie in einem Plattenladen, wobei alle Platten der fortlaufenden Seriennummer nach in Kästen untergebracht sind. So kann man sie in der Reihenfolge der Seriennummern durchstöbern.

Rutherford Chang, We Buy White Albums in der Ausstellung HYPER! A JOURNEY INTO ART AND MUSIC. Foto: Henning Rogge/Deichtorhallen Hamburg

Was war der Ausgangspunkt deines Projekts?
Ich habe mir als Teenager das White Album gekauft, einfach nur, um die Musik zu hören. Besonders beeindruckt hat mich die Platte allerdings nicht. Das Album hatte bei einem Garagenverkauf nur einen Dollar gekostet, also kaufte ich es. Mein Projekt begann mit dem Kauf meines zweiten Exemplars. Das war 2007. Da wurde mir bewusst, dass diese ursprünglich identischen Objekte im Laufe der Zeit einmalige Artefakte geworden waren und dass sie alle eine Geschichte zu erzählen haben. Da beschloss ich, so viele wie möglich zu sammeln.

Du hast sogar eine Leuchtreklame We Buy White Albums entworfen. Ich finde, dass wir sie in das Schaufenster des Museumsshops der Deichtorhallen hängen sollten.

Genau so habe ich es mir vorgestellt. Es sollte wie eine Werbung aussehen, direkt im Schaufenster. Die Menschen sollten sehen können, dass sie dir ihre Schallplatten verkaufen können. Zu Anfang habe ich die meisten Exemplare noch online gekauft oder selbst nach ihnen gesucht. Seit dem ich aber vor fünf Jahren damit begonnen habe, das Projekt öffentlich zu präsentieren, kommen die Leute aufgrund der gesteigerten Aufmerksamkeit auch zu mir, bieten mir Exemplare an, und ich kaufe sie. Wenn die Leute sie ins Museum bringen, kaufe ich sie in jeden Fall – sofern es sich um eine nummeriertes Exemplar handelt und der Preis stimmt.

Was ist ein angemessener Preis für dich?
Es kommt darauf an, aber ich habe nie viel für ein Exemplar bezahlt. Ich habe gar kein Interesse daran, hohe Preise für Mint-Qualität zu zahlen. Ich interessiere mich eher für heruntergekommene Exemplare, deren Cover Altersspuren aufweisen oder sogar beschädigt sind.

Stimmt es, dass Ausstellungsbesucher in den Plattenkisten stöbern dürfen?
Oh ja, das ist natürlich erlaubt, genau wie in einem Plattenladen. Damit überwindest du die Distanz zwischen dem Kunstwerk und dem Publikum. Normalerweise darf man nichts in einem Museum anfassen: Der Alarm wird ausgelöst und man wird verhaftet. Bei mir kann man sich wie in einem echten Plattenladen verhalten, nur dass man die Platten natürlich nicht kaufen kann. Man kann sie sich aber anhören. Es sind Objekte, mit denen man umgehen kann, die man berühren, riechen und die man anhören kann. Es sind physische Objekte, und ich wünsche mir, dass die Leute auf eine ganz natürliche Weise mit ihnen umgehen.

Rutherford Chang, We Buy White Albums in der Ausstellung HYPER! A JOURNEY INTO ART AND MUSIC. Foto: Henning Rogge/Deichtorhallen Hamburg

100 ausgewählte White Albums sind auch über den Plattenkisten an der Wand ausgestellt – wie in einem Plattenladen. Sind das immer die gleichen 100 Platten?
Die 100 Platten wurden vor fünf Jahren in New York ausgesucht. Es sind die ersten 100 Platten, die von den Besuchern angehört wurden. Ich habe auch eine Auflage dieser ersten 100 Exemplare hergestellt. 

Das ist ein faszinierendes Multiple. 
Ich habe jede dieser 100 Platten einzeln digitalisiert, diese Aufnahmen übereinandergeschichtet und dann als neue Vinylplatte gepresst, die sich anhört, als ob 100 unterschiedliche Kopien derselben Platte gleichzeitig abgespielt werden.



Wie hast du sie gemischt?

Ähnlich wie die Cover, die gealtert sind und zu einzigartigen Objekten wurden, verwandelten sich die Vinylplatten aufgrund der Materialität des Vinyls. Das sind 50 Jahre alte Objekte, die zerkratzt und verschmutzt sind – daher klingen sie alle etwas anders. Wie du dir unschwer vorstellen kannst, wenn man sich 100 unterschiedliche Kopien gleichzeitig anhört, fangen sie synchron an, um dann kontinuierlich über die Seite hinweg auseinanderzudriften, bis dann am Ende nur noch totaler Lärm zu hören ist.



Warst du jemals irritiert darüber, wie viele Leute das Cover ihres White Albums als Skizzen- oder Notizbuch verwendet haben?
Wenn ich Alben sammle, versuche ich grundsätzlich, sie in einem guten Zustand zu erhalten und trotzdem ist die Kopie, die ich einst von meinem Vater geerbt habe, deutlich gealtert. Ich wäre aber nie auf die Idee gekommen, Notizen darauf zu schreiben. Vinylplatten sind in der Zwischenzeit zu fetischisierten Sammlerobjekten geworden, aber in der Vergangenheit waren es einfach nur Tonträger. Ich vermute, die Leute haben damals nicht soviel darüber nachgedacht, und 50 Jahre sind auch eine lange Zeit, in der viel passieren kann. Platten wechselten die Besitzer, gingen durch viele Hände – auch das spielt eine Rolle.



Deine Installation wächst ständig. In den Deichtorhallen werden wir sie so zeigen, wie sie sich in den letzten Jahren ent wickelt hat, und wenn ein anderes Museum die Installation zeigt, werden es vielleicht wieder 100 Exemplare mehr zu sehen sein.
Ja, es ist eine fortlaufend wachsende Installation. Ein Teil der Schönheit dieses Albums besteht darin, dass es sich um ein Massenprodukt handelt, aber gleichzeitig jedes Exemplar aufgrund der Seriennummer einzigartig ist – aber alle sammeln zu wollen, wäre eine absurde Aufgabe.

Rutherford Chang, We Buy White Albums in der Ausstellung HYPER! A JOURNEY INTO ART AND MUSIC. Foto: Henning Rogge/Deichtorhallen Hamburg


Wie viele Exemplare zeigst du ungefähr in den Deichtorhallen?

Im Moment habe ich 2.173 Exemplare – und ich kaufe ständig neue an.



Wie waren die bisherigen Reaktionen auf die Installation? Gefällt sie nur Leuten aus der Kunstwelt oder auch Leuten aus der Musikwelt?


Es ist ziemlich gemischt. Es gibt Menschen aus der Kunstwelt, und dann gibt es die Plattensammler. Es berührt definitiv die Obsessionen von Plattensammlern. Es bringt das Plattensammeln auf eine wirklich zwanghafte Stufe.



Scott King fertigte eine Frottage der Fassade des Hauses an, in dem Ian Curtis gelebt hat und gestorben ist. Er ist eine konzeptionelle Arbeit über extreme Auswüchse von Fantum.


Es gibt Beatles-Fans, die glauben, dass ich der extremste von ihnen sei. Aber ich kaufe diese Platten nicht, um die Musik zu hören. Du brauchst definitiv nicht 2.000 Exemplare desselben Albums, um es dir anzuhören. Trotzdem ist das Phänomen der Beatles für mich interessant: Was passiert, wenn eine Band zur größten Band der Welt wird? Das betrifft auch ihre Fans und die gesamte Kultur um sie herum. Und das offenbart sich, was mit diesen Alben passiert ist — so wie sie gealtert sind, wie die Leute sie verziert haben, die Art und Weise, auf welche die Kopien all diese Geschichten transportieren.

Es war von Richard Hamilton eine ziemlich kühne Aussage, der berühmtesten Band der Welt eine leeres Quadrat als Albumcover zu geben, was im Wesentlichen bedeutet, dass man alles darauf projizieren kann, richtig?

Genau. Das macht es zum erstaunlichsten Pop-Art-Kunstwerk und zur besten Platte aller Zeiten, die man sammeln kann. Ich mag auch den Kontrast zwischen der Kunstwelt und der Musikwelt, der hier offensichtlich wird. Wenn du ein Original von Picasso besitzt, bist du ein gemachter Mann. In der Musikwelt geht es nicht so sehr darum, das Master zu besitzen, sondern eher die Kopie. Die Kopie, die du besitzt, kann eine von zwei, drei, fünf oder zehn Millionen Exemplaren sein, es handelt sich um ein Massenprodukt. Zwischen dem einzigartigen Originalobjekt und der Kopie besteht eine Dynamik. Und ich denke, dass es durchaus ein Teil von Richard Hamiltons 
ursprünglichem Design war, diese Seriennummer auf das Cover zu setzen. Es ist unglaublich wichtig, weil jeder eine sehr persönliche Beziehung zu der Musik auf diesem Album hat, aber offensichtlich haben Millionen von Menschen eine ähnliche oder eine verwandte Erfahrung, und deswegen erschafft die Wiederzusammenführung von Kopien dieser riesigen Auflage eine Art Artefakt dieser Erfahrung.

Das ungekürzte Gespräch mit Rutherford Chang ist im Katalog zur Ausstellung HYPER! A JOURNEY INTO ART AND MUSIC erschienen. Vorwort von Dirk Luckow, einem einführenden Text von Kurator Max Dax, über 30 Interviews mit den beteiligten Künstler*innen sowie einem Gespräch zwischen Dax und Hans Ulrich Obrist. Umfangreicher Bildteil, 292 Seiten. Snoeck Verlag. Deutsche und englische Ausgabe, 49,80 Euro

Die Ausstellung HYPER! A JOURNEY INTO ART AND MUSIC ist noch bis zum 4. August in der Halle für aktuelle Kunst zu sehen.


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