FOTO: JULIA STEINIGEWEG

»Seine Aufnahmen sind wie Traumsequenzen«

Mehr als dreißig Jahre lang hat Jerry Berndt die amerikanischen Protestbewegungen und die gebrochene Schönheit des Landes dokumentiert. Ein Gespräch mit der Kuratorin Sabine Schnakenberg über Melancholie, Beobachtungsgabe und warum uns Berndts Werk gerade jetzt so berührt. VON ULRICH RÜTER

8. Oktober 2020

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HALLE4: Sabine, die Präsidentsschaftwahlen in den USA stehen unmittelbar bevor, das Land scheint gespalten wie noch nie. In deiner Ausstellung BEAUTIFUL AMERICA des Fotografen Jerry Berndt sind Bilder zu sehen, in denen die soziale Verfassung Amerikas zwischen den 1960er- und 1980er-Jahren dokumentiert wird. Warum ist Berndts Werk heute noch wichtig?
Sabine Schnakenberg: Es ist ein großartiger Blick auf die USA in ihrer ganzen historischen Dimension von jemandem, der Amerikaner ist und die 1960er-Jahre als kritischer Zeitzeuge miterlebt hat. Bemerkenswert ist auch, dass er selbst ja nun viele Jahre vom FBI verfolgt wurde und seine Umgebung ausgespitzelt wurde. In diesem Zusammenhang entstanden auch seine nächtlichen Aufnahmen, denn er schlief am Tag und fotografierte nachts, weil er schlicht und ergreifend Angst hatte. Relevante Daten über seine Biografie erhält man durch die FBI-Akte. Das ist doch ziemlich verrückt – und erschreckend!

Wie kam es zur Ausstellungsidee, Jerry Berndt im Haus der Photographie zu präsentieren?
Einige Motive aus Berndts Serie Combat Zone aus der Sammlung Falckenberg hatte ich bereits 2018 in der Ausstellung STREET. LIFE. PHOTOGRAPHY gezeigt. So kam ich auch in Kontakt zum Galeristen Nils Grossien, der als einer der ersten Berndt in Deutschland ausgestellt hat und dem Estate Jerry Berndt eng verbunden ist. Gemeinsam mit der Witwe Jerry Berndts, Marie-Pascale Lescot, die in Paris lebt und die dort das gesamte Archiv pflegt, setzt er sich für den Erhalt und die Präsentation des Werkes ein.

Jerry Berndt, Hooker, King of Pizza, 1969, aus der Serie The Combat Zone Boston. Courtesy The Jerry Berndt Estate 2020

Was wird in der Ausstellung im Haus der Photographie gezeigt?
Der Nachlass ist ziemlich umfangreich. Es gibt unterschiedlichste Serien, die sich erhalten haben. Zwar weiß ich nicht im Detail, wieviel Material genau vorhanden ist, aber das, was ich kenne, ist in einem wirklich sehr guten Zustand und größtenteils für das letzte Buchprojekt von Jerry Berndt in Paris in den letzten Jahren vor seinem Tod nochmals abgezogen worden. Aus dem Nachlass werden aus dem Themenkomplex Beautiful America, also die erste und gleichzeitig letzte Serie, an der Berndt ab etwa 2011 für den Steidl Verlag an einer Publikation arbeitete, etwa 120 Arbeiten gezeigt.

Deine Ausstellung geht über das Steidl-Buch weit hinaus.
Ja, klar. Aber mit der Steidl-Publikation aus dem Jahr 2017 habe ich einen Eindruck über das riesige Potenzial und die Ausrichtung bekommen, die Berndt dem Ganzen geben wollte. Diese Auswahl ist das letzte von Berndt selbst betreute Werk, der darüber 2013 verstorben ist. Ich habe das Ganze etwas erweitert, besonders eine Nuance hat es mir angetan, die allen Serien von Jerry Berndt anhaftet: eine nicht zu überwindende melancholische Haltung, die fester Bestandteil seiner Sicht auf die Welt war. Eine seltsame Distanz und ein gleichzeitiges Entlarven alltäglicher Szenerien.

Eine Serie, durch schwarze Rahmen hervorgehoben, fällt besonders auf...
Ich habe zusätzlich noch Arbeiten aus der Serie Missing Persons – The Homeless in die Ausstellung mit aufgenommen. Diese sind in der ursprünglichen Serie von Beautiful America nicht enthalten. Das sind großartige Porträts, die von 1983 bis 1985 in einem Obdachlosenasyl in Boston entstanden sind. Hier sieht man besonders deutlich, wie empathisch Jerry Berndt gearbeitet hat.

Jerry Berndt, Soup Line, Long Island Shelter for the homeless, Boston, 1983, aus der Serie Missing Persons – The Homeless. Courtesy The Jerry Berndt Estate 2020.

Du hast Jerry Berndt ja nicht mehr persönlich kennengelernt – wie vermittelt sich für dich seine Persönlichkeit anhand seines Werkes?
Er wirkt auf mich sehr nachdenklich, aber nicht in dieser intellektuellen Ausprägung. Er hat wirklich intuitiv fotografiert und dabei sein eigenes Unbehagen und seinen eigenen Dissens mit der Welt einfließen lassen. Welches Ausmaß an Traurigkeit in den Arbeiten steckt, hat er letztlich vielleicht gar nicht so wahrgenommen. Ich hatte oft den Eindruck, als würden sich diese Bilder von allein ereignen und er könnte sie nur mit dieser unendlichen Traurigkeit registrieren. Ich glaube, dass er persönlich eine extrem komplexe Natur war. Die Kamera ermöglichte ihm diese distanzierte Sicht auf die Welt. Letztlich geht es in allen Serien auch ganz stark um ihn selbst.

Was interessiert dich persönlich an Berndts Werk?
Ich habe oft das Gefühl, als ob sich in die Art seiner Fotografie etwas ganz Intimes, Persönliches eingeschlichen hat, das er gar nicht kontrollieren konnte und vermutlich auch nicht wollte. Manchmal habe ich sogar von seinen Bildern geträumt – das klappt nur, wenn mich etwas wirklich emotional erreicht. Es gibt in seinem Werk Aufnahmen, die selbst wie Traumsequenzen aussehen.

Die Abzüge hat Berndt noch alle selbst in seiner Dunkelkammer hergestellt.

Man sieht, wie genau und sorgfältig er an seinen Prints gearbeitet hat. Er kam ja aus der amerikanischen Protestbewegung und war eher ein Macher, Planer, Organisator von Events, Protesten, Demonstrationen und Sit-Ins. Erst durch seinen Job an der Universität begann er, diese Aktionen durch die Fotografie zu bebildern. Hier brachte er sich die Grundlagen der Fotografie erst einmal selbst bei. Für ihn war die Fotografie eine Notwendigkeit, das zu dokumentieren, was ansonsten nicht gezeigt wurde.

Jerry Berndt: Detroit, 1970. Courtesy The Jerry Berndt Estate 2020

Wie würdest du das Verhältnis zwischen dem Dokumentaristen, dem Bildjournalisten und dem empathischen Aktivisten Jerry Berndt beschreiben?
Bei ihm kamen diese verschiedenen Rollen zusammen. Auffällig ist für mich, dass Empathie und Melancholie sich auch in seinen eher dokumentarischen Bildern treffen. In der Bildabfolge und bei der Hängung der Motive habe ich versucht, genau das hervorzuheben. Sein Werk ist durchaus narrativ.

Woran lässt sich das erkennen?
Es sind die kleinen Geschichten, die innerhalb seiner Bilder erzählt werden, vor allem anhand der Details. Berndt hatte eine sehr gute Beobachtungsgabe und eine sehr einfühlsame Sicht auf die Dinge. Er ist nie plakativ. Auch das Bild einer stolzen mittelständischen Hausfrau in ihrer Küche kann eine ganze Geschichte erzählen, nicht zuletzt, weil es sich bei diesem Beispiel um seine eigene Mutter handelt.

Viele Aufnahmen in der Ausstellung könnten in ähnlicher Form so auch heute entstanden sein. Berühren uns seine Bilder auch deswegen so stark?
Es hat sich eben nichts verändert. Jedenfalls nicht wesentlich. Sei es die Gewaltbereitschaft der Polizei und ihr Umgang mit der Black Community oder die urbanen Landschaften in Detroit. Zwar hat sich heute die Bildsprache gewandelt, das ist klar, aber Jerry Berndt hat sich in seiner Zeit immer durch eine typische amerikanische Welt bewegt, die sehr homogen ist. Sie wird heterogen durch seine Motivauswahl, aber sie bleibt trotzdem homogen, da die Gesellschaftsentwicklung zu stagnieren scheint. Das ist ein ganz plakatives Aussagemuster dieser gesamten Ausstellung.

Jerry Berndt, Seabrook, 1976. Courtesy The Jerry Berndt Estate 2020.

Man könnte es aber auch als Stereotyp verstehen, wie wir auf Amerika blicken. Wo geht Berndt denn darüber hinaus?
In seinen Stillleben. Ich habe sie in den Dateien des Estates gefunden und mich gleich auf sie gestürzt, weil diese Stillleben eben keine Menschen zeigen, sondern als Aussagen für sich stehen. Sie tragen dazu bei, den Eindruck von Verlassenheit, von Isolation zu verstärken, Kälte, Vernachlässigung, Trauer. Eine apokalyptische Stimmung. Da ist dieser Hund auf regenasser Straße, ein zerfetzter Sessel, die kaputten Autos, der Müll: das sind alles Sachen, bei denen er sich über das gängige Stereotyp abhebt. Er sieht die Welt eben doch auch durch seine Persönlichkeit, seine Persönlichkeitsstruktur. Ich glaube nicht, dass Jerry Berndt der fröhlichste Mensch auf dieser Welt war.

Sind dir deshalb seine Stillleben in der Ausstellung so wichtig?
Genau. Eine rein dokumentarische Ausstellung über die politischen Strömungen in den USA der 1960er-Jahre wäre mir zu wenig gewesen. Mit den Stillleben gewinnt die Ausstellung ein ganz anderes Profil, eine ganz andere Kraft, eine ureigene Wirkung. Es ist eben keine »dokumentarfotografische« Ausstellung. In diesen Kategorien denke ich gar nicht. Ich wollte herausfinden, was Berndt in seiner Zeit neben den Protestaktionen noch alles fotografiert hat. Was war ihm wichtig? Und diese Stillleben waren ihm offenbar extrem wichtig, vielleicht auch um sich selbst in ihnen zu spiegeln.

Findest du dich darin auch selbst wieder?
Absolut. Die verschiedenen Stimmungen sind genau das, was mich an der Fotografie reizt, was die Fotografie als Medium an Erinnerung produziert und was psychologisch nachwirkt und sie so unglaublich interessant macht.

Ulrich Rüter ist Fotografie- und Kunsthistoriker und lebt in Hamburg. Als freier Autor, Dozent und Kurator arbeitet er für zahlreiche Magazine und Institutionen, so unter anderem auch für die Deichtorhallen Hamburg, zuletzt als kuratorischer Berater der 7. Triennale der Photographie.

Die Ausstellung JERRY BERNDT – BEAUTIFUL AMERICA ist bis zum 3. Januar 2021 im Haus der Photographie zu sehen.


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