Hyper Diaries #4
27. November 2018
© Britta Thie
27. November 2018
Kürzlich in Berlin. DJ Hell legt mit schickem Anzug in einem pittoresken Ballsaal im ersten Stock eines Berliner Hinterhauses auf. Eingeladen hat Julia Stoschek, die Leiterin der Julia Stoschek Collection (JSC), der weltweit größten Sammlung von Videokunstwerken. Sie präsentiert an diesem Abend ihre Neuakquisitionen, darunter eine Videoarbeit von Britta Thie, der derzeit vielleicht am heißesten gehandelten Millenial-Künstlerin Berlins. Millenial, das sollte man anmerken, das ist die Generation der ab dem Jahr 1989 Geborenen, also alle jungen Menschen, die von Geburt an mit dem Internet aufgewachsen sind.
Hans Ulrich Obrist hat einen eigenen Begriff für die Millenials, er nennt sie die Generation 89plus. Die Künstler dieser Generation katalogisiert er gemeinsam mit Simon Castets, der in New York das Swiss Institute leitet, eine Art Think Tank für die Kunstwelt und insbesondere für Kuratoren, die neue Wege gehen wollen. Die flächenweite Einführung des Internets wird von Hans Ulrich Obrist und Simon Castets als Gezeitenwechsel begriffen, gemeinsam interviewen die beiden seit Jahren systematisch alle Künstler*innen, Literat*innen und Musiker*innen, die der Generation 89plus angehören.
Britta Thie also ist ein Millenial, und sie tanzt auf vielen Hochzeiten – vielleicht ist es ein Symptom der Generation 89plus, dass deren Protagonisten es gewohnt sind, als Freiberufler*innen für eine Vielzahl von Verdienstmöglichkeiten offen zu sein. Britta Thie ist ein erfolgreiches Fashion-Model, da spielt ihr in die Karten, dass sie einfach eine wunderschön anzusehende, fotogene junge Frau ist. Sie ist aber auch Schauspielerin, Spielfilmregisseurin, Autorin und eben Videokünstlerin. Am JSC-Abend in Berlin wird ihre Videoarbeit Powerbanks gezeigt: Jugendliche hängen in einem Einkaufszentrum ab und erfinden dort vor Ort ihre eigenen Tanzchoreographien und Soap Operas, die sie in ihren eigenen Instagram-Kanälen ausspielen.
Damit man ihre Filme auch in Ruhe anschauen kann, hat Britta Thie fünf Polsterbänke gebaut – sie nennt sie Power Banks –, auf denen man bequem sitzen kann. Das Design der Bänke ist eine Übertreibung gelernter Shopping-Mall-Innenarchitekturen mit ihren Massagesitzen und Konsumverschnaufgelegenheiten. In diese Bänke hat Britta Thie unzählige Steckdosen und Smartphone-Ladestationen mitsamt Ladekabeln einbauen lassen – bei der Präsentation in Berlin war Britta Thies Power-Bank-Sofa the place to be. Alle haben dort ihr Handy aufgeladen.
In der HYPER!-Ausstellung wird Britta Thie alle fünf Bänke ausstellen und um eine Vielzahl von krakenhaft aus den Bänken herausquellenden Kopfhörern ergänzen, auf denen man Podcasts, Interviews und Musik von Jugendlichen hören kann, die Britta Thie auf diesen Shopping-Mall-Bänken tatsächlich angetroffen hat: »Eigentlich ist die Shopping Mall ein Phänomen der Neunzigerjahre, aber durch die digitale Ebene hat sie eine neue Relevanz bekommen — die Mall ist zum warmen Ort mit Strom geworden, zu einer Komfortzone, in der man stundenlang abhängen und das Handy aufladen kann. Und sich selbst irgendwie auch, weil man ja sitzt. Das Ganze hat auch etwas von der West Side Story, weil jede Sitzgelegenheit von einer anderen Crew besetzt wird. Es gab die Bros, mit ihren schwarzen Nike-Sportklamotten, die wie magnetisch von den schwarzen Bänken angezogen werden, und es gibt die Girls mit ihren H&M Jeans, die die eher beigefarbenen Sofas vorziehen. Kein Jugendlicher kommt mehr ohne Power-Bank aus, also ohne diesen fetten Batterieklotz, den man immer dabei haben muss, weil der Akku für das Smartphone bei Powernutzung nicht den ganzen Tag reicht. Die Mall ist ein Ort, von dem alle angezogen werden, weil sie sich da selbst und ihre Geräte sich auch ausruhen können.«
Gelegenheiten zum Ausruhen wird auch in der HYPER!-Ausstellung benötigt, denn man wird theoretisch Tage in der Ausstellung verbringen können, wenn man wirklich jedes Video und jede Arbeit voll erfassen möchte. Tatsächlich hatte ich bereits Arbeiten, auf denen man auch sitzen kann, von Scott King und Michaela Melián in Betracht gezogen, doch Britta Thies Power Banks überzeugten mich sofort, weil sie ein ganz neues Narrativ zu implantieren vermochten, auf eine Art sind ihre Bänke eine abstrakte Porträtserie der Generation 89plus mit ihrem Energie- und Medienhunger.
Ein anderes Millenial ist die Berliner Malerin Bettina Scholz, die, wie jede an der Ausstellung teilnehmende Künstler*in für einen eigenen Ansatz im weiten, ausufernden Feld der gegenseitigen Beeinflussung von Kunst und Musik steht. Ihr Ansatz ist synästhetischer Natur, außerdem liegen ihren Gemälden stets Vorbilder oder, wie sie es nennt, »Wahlverwandtschaften« aus anderen Disziplinen zugrunde. Bettina Scholz malt Bilder, die wie alchemistische Farbschüttungen sind. Viele Betrachter*innen sehen in diesen Bildern apokalyptische Motive, so assoziationsreich sind ihre Abstraktionen, die sie stets hinter Glas rahmt. Durch die Distanzebene des Glases und die daraus resultierenden Spiegelungen, aber auch durch die Verwendung kräftiger, leuchtender Farben, erinnern Bettina Scholz’ Gemälde oft an überformatige Smartphones oder Tablets, gigantische Hinterglas-Bildschirme.
In den drei Gemälden, die Bettina Scholz für die HYPER!-Ausstellung gemalt hat, erweiterte sie den Kreis ihrer Wahlverwandtschaften um das Feld der Musik. In früheren Bildern thematisierte sie vornehmlich Einflüsse aus der Literatur und aus dem Film. Eine Arbeit von ihr aus dem Jahr 2017 trägt den Titel Magnon (after L.R.). Die Abkürzung steht für den Schriftsteller Leif Randt und dessen gefeierten Science-Fiction-Roman Planet Magnon. Die Geschichte ist einem Paralleluniversum angesiedelt, in welchem eine empathische, Interessen ausgleichende Künstliche Intelligenz die Menschen regiert. Die Menschen wiederum konsumieren eine Droge namens Magnon, deren Genuss erweiterte Erkenntnis verspricht – ein konstruktiver Rausch der ganz anderen Art. Bettina Scholz stellte sich die Farbe dieser Droge vor und malte ein bronzefarbenes Bild.
Jetzt kommt die Musik ins Spiel: Bettina Scholz bleibt im Bereich der
Science-Fiction und suchte sich als neue Wahlverwandtschaften drei
Scores zu drei Science-Fiction-Filmen aus, zu denen sie assoziativ —
oder synästhetisch — malte. Unter Synästhesie versteht man kurz gesagt,
multiperspektivische Wahrnehmung. Man hört Musik und sieht im Kopf eine
Farbe. Eine synästhetisch agierende Maler*in kann also beispielsweise
versuchen, einen Farbton zu treffen, den sie beim Hören einer bestimmten
Musik sieht. Bettina Scholz wählte Edward Artemievs Filmmusik zu Andrej
Tarkowskijs Solaris, Hans Zimmers Score zu Denis Villeneuves Blade Runner 2049, den Queen-Soundtrack zu dem B-Movie Flash Gordon.
Alle drei im selben Stelenformat angefertigten Gemälde haben eine andere Farbigkeit, was durch – eben – die Synästhesie zu erklären ist. Aber auch der Rhythmus, der Charakter, die Tonalität und die Stimmung der Filmmusiken fließt motivisch in die Bilder ein. Ihre Arbeitsweise beschreibt Bettina Scholz wie folgt: »Die Vorzeichnungen zu den Bildern habe ich direkt beim Hören der Musik gezeichnet. Danach habe ich die Musik ausgeschaltet und in der Stille weitergearbeitet, in Erinnerung an die Tracks, aber natürlich auch an die Filmbilder. Filmmusiken sind suggestiv: Sie sickern nicht nur in unser Unterbewusstsein ein, sondern sie sind auch ein Schlüssel zu Filmbildern, die wir gesehen haben. Es handelt sich also um einen Akt der Überlagerung mehrere Reize zwischen Filmbild, Score und gemaltem Bild.«
In der Ausstellung HYPER! geht es um die wechselseitige, meist konzeptuelle, manchmal schicksalhafte Beziehung zwischen Musik und Kunst. An der Gruppenausstellung nehmen legendäre Ikonen dieser Zwischenwelt teil wie Albert Oehlen, Emil Schult, Rosemarie Trockel oder Andreas Gursky, die niemandem mehr etwas beweisen müssen und in deren Werk immer wieder Motive aus der Musik auftauchen. Ihnen gegenüber stehen Positionen der Generation 89plus, die in die Künstlerliste der Ausstellung aufgenommen wurden, weil sie gänzlich unbefangen von Altlasten und kanonischem Überbau loslegen und sich minutiös in ihren Social-Media-Kanälen und –Followergemeinden spiegeln. Sie spielen nach anderen Spielregeln. Gemein ist indes allen teilnehmenden Künstler*innen, dass sie ihre Lebenswirklichkeit in der Kunst und im Zusammenspiel mit der Unmittelbarkeit der Musik reflektieren, mehr oder weniger konzeptuell, intuitiv oder systematisch. Alle Herangehensweise werden durch die Interviews im HYPER!-Katalog transparent, hier laufen alle Erzählstränge der Ausstellung auf einer erzählerischen, für jeden nachvollziehbaren Ebene in Form von Gesprächen über Kunst und Musik zusammen.
Es bleibt spannend.
Der Autor und Journalist Max Dax vertritt genau wie der Soziologe Klaus Theweleit die Position, dass jedes Gespräch das Potential hat, weit mehr zu sein als die Summe seiner Bestandteile. In seiner bisherigen Laufbahn war Max Dax Herausgeber bzw. Chefredakteur von Magazinen wie Alert Interviews, Spex oder dem Electronic Beats Magazine by Telekom. Als Autor schrieb er Bücher über Nick Cave, Einstürzende Neubauten, CAN und Scooter. In Berlin kuratiert er das Programm der Santa Lucia Galerie der Gespräche. Für die Deichtorhallen entwickelte er das Ausstellungskonzept für die Ausstellung HYPER! A JOURNEY INTO ART AND MUSIC, die er zugleich auch kuratiert. Die Ausstellung eröffnet am 28. Februar 2019 in der Halle für aktuelle Kunst.