© TOMI UNGERER ESTATE / FOTO: HERMAN BAILY

»Ungerer ging bis ins Extrem«

Mit Kinderbüchern wurde Tomi Ungerer berühmt, seine satirischen und erotischen Zeichungen hingegen sorgten für Skandale. Dabei ging es Ungerer vor allem darum, das menschliche Dasein auszuloten. Ein Gespräch mit Thérèse Willer, Leiterin des Tomi-Ungerer-Museums in Straßburg. VON VERONIKA SCHÖNE

12. April 2022

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Frau Willer, Tomi Ungerer hat viele Zyklen geschaffen, in denen er scharfe Gesellschaftskritik geübt hat. Eine ganze Reihe von Erotika mit expliziten pornografischen Darstellungen gehört ebenfalls zu seinem Werk. Wie sind diese Werke beim Publikum angekommen?
Von welchem Publikum sprechen wir? Es gibt einen großen Unterschied zwischen dem deutschen, dem französischen, dem englischen und dem amerikanischen Publikum. Die erotischen Zyklen Fornicon und Totempole beispielsweise wurden von dem französischen Publikum nahezu ignoriert, während in den Staaten und in Großbritannien die Hölle los war.

Lösten die Publikationen oder die Ausstellungen seiner Erotika einen Skandal aus?
Beides. Anlässlich seiner Retrospektive, die 1981 durch Frankreich, Deutschland und Großbritannien tourte, musste ein Drittel der Ausstellung in London wegen anhaltender Kritik geschlossen werden. Auch die Deutschen haben sich aufgeregt. Hier waren es vor allem die Feministinnen, die empört reagiert haben. In London wurden die erotischen Skulpturen, die Ungerer zu Fornicon angefertigt hat, aus Protest mit Toilettenpapier umhüllt.

Totempole, Fornicon und Schutzengel der Hölle sind als Bücher herausgekommen. Waren sie von vornherein als solche konzipiert?
Die Zeichnungen waren anfänglich nicht für eine Publikation gedacht, sondern frei inspirierte Zyklen. Fornicon ist komplett fiktiv.

Tomi Ungerer, Ohne Titel, unveröffentlichte Zeichnung für Fornicon, ca. 1969 © Tomi Ungerer Estate / Foto: Herman Baily

Der Zyklus entspringt nicht nur einer persönlichen Obsession, sondern dient letztlich als Metapher für eine Gesellschaftskritik, eine Kritik an der Mechanisierung der Sexualität. Fornicon ist eigentlich die abstrakteste und auch intellektuell anspruchsvollste Auseinandersetzung mit Sexualität.
Man kann ihn auch als eine Art von Dystopie bezeichnen, eine Antizipation einer Realität in nicht allzu ferner Zukunft. Totempole hingegen ist viel assoziativer und Schutzengel der Hölle basiert auf persönlichen Erfahrungen. Ungerer kam 1984 nach Hamburg, wo er drei Monate bei Domenica in der Herbertstraße auf St. Pauli zu Gast und Dominas bei ihrer Arbeit begleitete.

Mit den Skandalen anlässlich der Erotika gerieten dann auch die Kinderzeichnungen unter Verdacht. Richtete sich der Vorwurf gegen die Person Ungerers, nicht gleichzeitig Kinderbuchautor und Erotikzeichner sein zu können?
Ebenso wie die antiken Mythen enthalten Ungerers Kinderbücher durchaus erotische Anspielungen, die aber eher psychologisch zu verstehen sind. Wie etwa das Ende von Zeraldas Riese, wo Zeralda den Riesen heiratet…

…was ja eigentlich eher ödipal als sexuell ist. In diesem Sinne sind viele Mythen und Märchen sexuell konnotiert.
Vor allem in den Vereinigten Staaten bezog sich die Empörung auch auf Ungerers Vorbildfunktion. Man kann nicht, so die Logik, gleichzeitig Kinderbuchillustrationen und Erotika zeichnen.

Tomi Ungerer, Ohne Titel, aus dem Skizzenbuch für Schutzengel der Hölle, 1985 © Tomi Ungerer Estate / Foto: Herman Baily

Wie verhielt es sich mit den anderen satirischen Zyklen und auch den zahlreichen Auftragsarbeiten in der Werbung?
Ganz generell muss man sagen, dass Ungerers Entwürfe für Auftragsarbeiten oft abgelehnt wurden. Wir haben einmal eine Ausstellung mit all den verworfenen Ideen bei uns in Straßburg gemacht. Gerade die sind aber besonders interessant und kraftvoll. Oft sind sie besser als die, die schließlich genommen wurden.

Waren seine politischen Plakate der 1960er-Jahre freie oder Auftragsarbeiten?
Black Power White Power beispielsweise war ursprünglich eine Illustration für die französische Satirezeitschrift Monocle. Ungerer hat mithilfe von Richard Kasak in New York ein Poster daraus gemacht, was zu einer Ikone der »Posters of Protest« wurde. Es erreichte eine hohe Auflage von einer Viertelmillion, wurde aber nie im Stadtraum plakatiert.

Und die anderen Anti-Vietnamkriegs-Poster?
Diese wurden tatsächlich von der Columbia University in New York in Auftrag gegeben. Sie hat die Entwürfe aber abgelehnt. Sie waren ihr zu aggressiv und zu provokativ. Tomi hat sich wieder an Richard Kasak gewandt und auch diese Serie mit dessen Hilfe publiziert. Auch sie waren nicht auf der Straße zu sehen. Man hat diese Poster gekauft wie andere Drucke auch.

Tomi Ungerer, Kiss for Peace, Plakat gegen den Vietnamkrieg, 1967 © Tomi Ungerer Estate / Foto: Herman Baily

Wie sieht es denn mit Electric Circus aus? Man weiß erst einmal nicht so recht, wofür diese Plakate mit ihrer explizit sexuellen, in elektrische Metaphern übersetzten Bildsprache eigentlich werben.
Tatsächlich handelt es sich um die Werbung für eine New Yorker Diskothek. Die Kampagne war auch kein großer Erfolg. Soweit ich weiß, wurde sie nach recht kurzer Zeit wieder einkassiert. Auch Stanley Kubrick wollte den ersten Entwurf zum Plakat von Dr. Strangelove nicht haben, obwohl er der stärkste war.

Dabei kann man nicht gerade behaupten, dass Kubrick reaktionär war…
Man muss bei Ungerer eines immer mit bedenken: die Art, wie er gearbeitet hat. Er hatte ein Skizzenbuch mit einer Fülle an Ideen, von denen er dann bei Gelegenheit die eine oder andere genommen und daraus eine Kinderbuchillustration oder ein Poster oder eine Werbung oder etwas anderes gemacht hat. Dasselbe Thema konnte sich so in verschiedene Richtungen entwickeln. Dadurch entstehen aber auch eigentümliche Verschiebungen, an manchen Stellen gar Missverhältnisse.

Was hat die New York Times zu der Kampagne gesagt, die Ungerer für sie entworfen hat? Denn auch hier treibt es Ungerer ja ziemlich weit.
Einige Motive wurden zwar abgelehnt. Aber die, die angenommen und plakatiert wurden, waren ein Erfolg.

Tomi Ungerer, Ohne Titel, aus der Plakatserie The Electric Circus, 1969 © Tomi Ungerer Estate / Foto: Herman Baily

Wie hat das Publikum auf seine satirischen Zyklen, das Underground Sketchbook (1964), The Party (1966) und Babylon (1979) reagiert? Sie sind teilweise wirklich abgründig, besonders Babylon, eine universelle Abrechnung mit menschlicher Verderbtheit, in der Ungerer wirklich nichts auslässt.
Diese Bücher haben nicht viele Leute gekauft. Sie sind recht vertraulich geblieben. Es gab kein breites Publikum und daher auch keine breite Resonanz. Die Veröffentlichung des Underground Sketchbook immerhin wurde von Henry Wolfe, Art Director des Esquire, unterstützt. The Party hat Ungerer mithilfe eines New Yorker Freundes herausgebracht, aber erst als es im Diogenes Verlag in der Schweiz erschienen ist, wurde es ein Erfolg – in Europa. Ähnlich verhielt es sich mit dem Underground Sketchbook. Babylon ist zunächst gar nicht in den USA erschienen, sondern nur in der Schweiz und in Frankreich. In den USA ist es erst sehr spät, Ende letzten Jahres, herausgekommen.

Wie waren dort die Reaktionen?
Letztlich wurden diese Bücher vor allem von Ungerer Fans geschätzt und gekauft. Aber sie entfalteten keine große Breitenwirkung, und auch der Skandal blieb aus.

Ungerers Abrechnung mit allem und jedem, ganz besonders die Abgründe, die er in Babylon ausleuchtet, legt die Frage nahe, ob er eigentlich ein Misanthrop war.
Ihm war nichts Menschliches fremd und er ging bis ins äußerste Extrem, um es auszuloten. Aber er trug absolut keinen Hass in sich.

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Veronika Schöne ist Kunsthistorikerin, Autorin und Dozentin. Sie schreibt Texte und macht Führungen, Seminare und Reisen zur Kunst.

Die Ausstellung TOMI UNGERER – IT'S ALL ABOUT FREEDOM ist bis zum 24. April 2022 in der Sammlung Falckenberg zu sehen.


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