Folge 5: Kunstfreiheit ist kein Joker

Das Verhältnis zwischen Kunst und anderen Bereichen wie Mode, Design, Politik oder Wissenschaft ist kompliziert geworden. Oft ist nicht mehr klar, ob es sich bei den gegenseitigen Annäherungen um eine raffinierte Strategie oder um ein Versehen handelt. Es droht Beliebigkeit – doch jenseits alter Grenzen und Kategorien entsteht etwas Neues VON WOLFGANG ULLRICH

2. Januar 2020

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Kaum etwas wird heutzutage häufiger verwechselt als Meinungsfreiheit und Kunstfreiheit. Einige tun so, als sei beides dasselbe, noch mehr glauben, man könne beliebig zwischen beidem wählen. Da sie aber meist zugleich der Auffassung sind, die Kunstfreiheit sei der Meinungsfreiheit überlegen, was die Schutzwirkung gegen Angriffe und Anklagen anbelangt, halten sie es für besonders schlau, sich grundsätzlich auf die Freiheit der Kunst zu berufen. So pochten etwa selbst Aktivisten von Attac, die 2017 beim G20-Gipfel in Hamburg am Demonstrieren gehindert wurden, auf die Kunstfreiheit, so als sei sie ein Joker, in deren Namen so gut wie alles erlaubt ist.

Noch abwegiger ist nur die Behauptung von Philipp Ruch, Chef des Zentrums für Politische Schönheit (ZPS), der 2018 in einem Gastbeitrag bei Monopol schrieb: »Eine Künstlerin hat de facto mehr Meinungsfreiheit als eine Normalbürgerin.« Hier werden Meinungs- und Kunstfreiheit nicht nur in flagranti verwechselt, sondern die Aussage missachtet zudem den Gleichheitsgrundsatz des Rechtsstaats. Dieser Grundsatz schließt im Übrigen auch aus, dass Kunstfreiheit irgendwie mehr ist als Meinungsfreiheit. Denn dann hätten Künstler tatsächlich mehr Rechte als andere Bürger.

Warum wird die Kunstfreiheit in Artikel 5.3 des Grundgesetztes dann aber überhaupt als eigenes Rechtsgut genannt, nachdem Artikel 5.1 ja schon die Meinungsfreiheit garantiert?

Das ist Folge einer sehr feinsinnigen Unterscheidung, die einiges über das Kunstverständnis der Väter und Mütter des Grundgesetzes verrät. Für sie war offenbar entscheidend, dass Kunst gerade nicht aus Meinungsäußerungen besteht, sondern aus Werken. Ganz idealistisch war damit gemeint, dass Kunst auf Dauer, gar auf Ewigkeit angelegt ist, während Meinungen meist anlassbezogen und damit kurzlebiger sind.

Außerdem haben sie üblicherweise bestimmte Adressaten, die man überzeugen oder denen man widersprechen will, während ein Kunstwerk bestenfalls autonom, also ohne Rücksicht auf ein spezifisches Gegenüber und dessen Interessen und Vorstellungen entsteht. Deshalb wäre es auch nicht angemessen, ein Kunstwerk in die Wirren der alltäglichen Meinungskämpfe hineinzuziehen.

Parallel zur Kunstfreiheit nennt Artikel 5.3 die Wissenschaftsfreiheit – und tatsächlich hat auch eine wissenschaftliche Theorie den Anspruch, nicht nur heute und nicht nur für bestimmte Adressaten, sondern allgemein zu gelten. Und wie ein Kunstwerk kann genauso eine Theorie so originell sein, dass sie zuerst überrascht oder sogar provoziert, also auf viel Widerstand stößt.

Eben deshalb will der Gesetzgeber an Bürger wie Gerichte appellieren, sich vor Banausie zu hüten und die Sonderformen von Kunst und Wissenschaft im Blick zu behalten. Man soll versuchen, im Umgang mit ihnen den begrenzten eigenen Standpunkt zu transzendieren – ohne Künstler und Wissenschaftler deshalb jedoch gegenüber anderen zu privilegieren.

Wie aber ist es zu verstehen, dass der Unterschied zwischen einem Werk und einer Meinung heute so gerne vergessen, Meinungs- mit Kunstfreiheit folglich immer wieder miteinander verwechselt wird?

Vielleicht hat es damit zu tun, dass vieles, was heute als Kunst entsteht, tatsächlich vor allem eine Meinungsbekundung darstellt. Gerade Aktionen wie die des ZPS haben darin ihren Kern, sich in die aktuelle politische Meinungsbildung einzumischen, polemisch gegen einzelne Menschen oder Gruppen zu agieren und auf eine spezifische Situation zugespitzt zu antworten. Für sie bräuchte man also eigentlich die Kunstfreiheit nicht als eigenes Rechtsgut, sie sind im Rechtsstaat aufgrund der Meinungsfreiheit sehr gut geschützt.

Dagegen macht die Berufung auf die Kunstfreiheit Sinn, ja kann von existenzieller Bedeutung sein, wenn eine Aktion oder Performance den Charakter eines Experiments oder einer Fiktion hat. So waren Jonathan Meeses Hitlergrüße alles andere als eine Meinungsäußerung. Sie zeugten weder (affirmativ) von einer rechtsradikalen noch (veralbernd) von einer antifaschistischen Gesinnung, sondern wurden bei Auftritten des Künstlers mit dem Anspruch vollzogen, ihre Bedeutung durch häufige Wiederholung und durch Einbettung in bisher unübliche Situationen zu neutralisieren und zu entdämonisieren.

Als Künstler trat Meese gegen eine übermächtige Semantik an und wollte exemplarisch deutlich machen, dass die Aufgabe und Fähigkeit von Kunst darin bestehen kann, selbst die vermeintlich fixiertesten Bedeutungen zu verändern und neu freizuspielen – alles infrage zu stellen. Als er 2013 angeklagt wurde, wäre es schwer gewesen, ihn mit Verweis auf die Meinungsfreiheit zu verteidigen. Denn es gab hier keine Meinung zu schützen, sehr wohl aber ein Kunstwerk: eine vielleicht vermessene, aber von den Maßstäben der realen Welt eindeutig unterschiedene, fiktional überhöhte Inszenierung.

Für alle Fälle, in denen Kunst sich als etwas ganz Eigenes versteht und das formal auch zu behaupten vermag, ist Artikel 5.3 also nach wie vor relevant. Erst wo sie mit anderen Bereichen und anderen Äußerungsformen verwechselbar wird, lässt sich auch Kunstfreiheit mit Meinungsfreiheit verwechseln.

Wolfgang Ullrich, geb. 1967, lebt als freier Autor und Kulturwissenschaftler in Leipzig. Er publiziert zur Geschichte und Kritik des Kunstbegriffs, zu bildsoziologischen Themen und zur Konsumtheorie. Zuletzt erschien von ihm Selfies. Die Rückkehr des öffentlichen Lebens im Verlag Klaus Wagenbach. Mehr unter www.ideenfreiheit.de