Folge 9: Gemeinsam stark

Das Verhältnis zwischen Kunst und anderen Bereichen wie Mode, Design, Politik oder Wissenschaft ist kompliziert geworden. Oft ist nicht mehr klar, ob es sich bei den gegenseitigen Annäherungen um eine raffinierte Strategie oder um ein Versehen handelt. Es droht Beliebigkeit – doch jenseits alter Grenzen und Kategorien entsteht etwas Neues VON WOLFGANG ULLRICH

7. Mai 2020

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Kaum eine andere Grenze wurde so oft infrage gestellt wie die zwischen Kunst und Wissenschaft. Schon in der Antike gehörte beides (neben anderem) zu den »artes«, den besonderen menschlichen Fertigkeiten, und zu fast allen Zeiten gab es Versuche, das eine mit dem anderen zu verbinden.

Die Kunst profitierte immer wieder von der Integration (und Interpretation) wissenschaftlicher Erkenntnisse; ganze Epochen wie der Manierismus oder Richtungen wie der Pointillismus wären sonst gar nicht denkbar. Umgekehrt kam es der Wissenschaft oft zugute, sich auf künstlerische Bilderfindungen zu beziehen und so die eigene Arbeit anschaulich zu machen. Gerade seit Naturwissenschaften sich vermehrt bildgebender Verfahren bedienen, gibt es sogar regelrecht Bedarf nach Beiträgen von Künstler*innen, die sowohl dank ihrer gestalterischen Fähigkeiten als auch mit ihrer ästhetischen Sensibilität dabei helfen können, die Ergebnisse von Experimenten und Messungen in eine produktive Form zu bringen.

Ein Beispiel dafür liefert der Künstler und Wissenschaftler Tim Otto Roth, dem es etwa mit seiner seit 2018 mehrfach ausgestellten Installation [aiskju:b] gelungen ist, Neutrinos sicht- und hörbar zu machen. In Zusammenarbeit mit Physikern übersetzte er in einem Observatorium am Südpol gesammelte Daten erstmals so, dass sich Eigenschaften dieser Teilchen begreifen lassen und die zu ihnen entwickelten Theorien besser verständlich werden.

Wie sehr Roths Arbeit den Standards sowohl von Kunst wie von Wissenschaft genügt, zeigt sich daran, dass sie von Vertreter*innen beider Bereiche gewürdigt wird. Der Kunstwissenschaftler Horst Bredekamp lobt, dass Wissenschaft hier nicht nur illustriert werde, Roths Installation also frei von dem »Anwendungskitsch« sei, der sonst »sehr oft im Zwischenverhältnis von Physik und bildender Kunst zu erleben ist«. Und die Physikerin Elisa Resconi von der TU München beschreibt [aiskju:b] als »ein außergewöhnliches Erlebnis«, das die Neutrino-Forschung »in eindrücklicher Weise sinnlich erfahrbar macht.«

Für beide leistet Roth als Künstler also einen Beitrag zur Wissenschaft. Da genau das auch sein Anspruch ist, distanziert er sich zugleich von Künstlern, die Sujets der Wissenschaft aus seiner Sicht nur effektbetont einsetzen. So kritisiert Roth in einem Text für das Fotomagazin Eikon etwa Thomas Ruff und dessen Fotoserie Sterne (1989-92), für die originale Platten der Europäischen Südsternwarte (ESO) großformatig abgezogen wurden.

Dass Ruff die Aufnahmen isoliert – ohne ergänzende Himmelskarten oder Informationen – präsentierte, ließ sie, so Roth, »mehrfach Nonsens, also sinnentleert« werden. Man kann nicht mehr verstehen, was man sieht, zumal der Künstler mit Verfremdungen operiert und etwa die Schwarzweißnegative auf Farbpapier reproduzieren ließ. Letztlich habe er ein »Fake« geschaffen, das zwar »mit Wissenschaftlichkeit aufgeladen ist«, aber keine wissenschaftlichen Erkenntnisse vermittelt – und schon gar nicht ermöglicht.

Roth erkennt auch nicht an, dass Ruff die originalen Fotos gegen den Strich liest und etwas Neues aus ihnen macht. So kann man die Serie als Reflexion eines Fotografen über sein eigenes Medium würdigen. Dass Fotografien Lichtbilder sind, lässt sich sogar fast nie so eindrucksvoll-erhaben begreifen, kommt das Licht der abgebildeten Sterne doch aus fernen Galaxien, hat also eine ungleich längere Reise hinter sich als bei anderen Aufnahmen.

Doch Roth kann nicht darüber hinwegsehen, dass Ruff, egal was seine Arbeit bewirken mag, den wissenschaftlichen Wert der Fotografien zerstört hat. Für ihn steht der Künstler damit sogar auf derselben Stufe wie Leute, die wissenschaftliche Erkenntnisse leugnen oder populistisch verzerren. Dass das aber kaum jemand schlimm findet und es auch sonst immer wieder zu Verwischungen und Verwechslungen zwischen Kunst und Wissenschaft kommt, deutet er als Folge davon, wie streng getrennt voneinander sich beide in der Moderne oft entwickelt haben.

Da sich kaum jemand Kunst und Wissenschaft gegenüber gleichermaßen verantwortlich fühlte, seien letztlich beide geschwächt worden: Wissenschaft für sich alleine bleibt oft unanschaulich, umgekehrt verliert die Kunst an Erkenntnisfähigkeit, wenn sie sich zu weit von der Wissenschaft entfernt.

Roth plädiert also für möglichst offene Grenzen zwischen Kunst und Wissenschaft. Sie in einen engeren Austausch miteinander bringen und auf diese Weise stärken zu wollen, würde aber nicht nur die Einschätzung von Arbeiten à la Thomas Ruff verändern. Es hieße vor allem, dem wachsenden Populismus etwas entgegensetzen zu können. Populisten nutzen die Schwächen von Wissenschaft und Kunst nämlich aus. Wo Wissenschaft abstrakt bleibt, können sie Abgehobenheit und Irrelevanz unterstellen, eine Kunst, die keine Erkenntnisinteressen verfolgt, der Willkür und Ignoranz bezichtigen.

In der gegenwärtigen Lage ist es für Roth daher sogar unabdingbar, dass Kunst und Wissenschaft sich verbünden. Vor allem Künstler*innen müssten sich »das Mäntelchen des verantwortungsbewussten Bürgers umhängen« und dem »Ruf nach mehr Medienkompetenz« folgen. Dann könnten sie der Wissenschaft dabei helfen, sich gegen Falschdarstellungen zu verteidigen, sie könnten vieles sichtbar machen und aufklären und damit zugleich selbst wichtiger werden.

Nur gemeinsam – so Roths bemerkenswerte These – sind Wissenschaft und Kunst stark genug, um gegenüber dem Populismus und gegenüber Vereinfachern, Demagogen und Ideologen bestehen zu können.

Wolfgang Ullrich, geb. 1967, lebt als freier Autor und Kulturwissenschaftler in Leipzig. Er publiziert zur Geschichte und Kritik des Kunstbegriffs, zu bildsoziologischen Themen und zur Konsumtheorie. Zuletzt erschien von ihm Selfies. Die Rückkehr des öffentlichen Lebens im Verlag Klaus Wagenbach. Mehr unter www.ideenfreiheit.de