FOTO: STELLA OLIVIER. COURTESY WILLIAM KENTRIDGE STUDIO

Alles in Bewegung

Ein Künstlerleben in Südafrika: Sein Elternhaus und die politischen Konflikte in seiner Heimatstadt Johannesburg haben den Künstler, Filmemacher und Bühnenregisseur William Kentridge und sein Werk geformt. VON MELANIE VON BISMARCK

3. November 2020

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Als der 6-jährige William im Arbeitszimmer seines Vaters 1961 eine gelbe Schachtel entdeckt, erhofft er sich Schokolade. Stattdessen findet der kleine Junge in dem Karton Schwarzweißfotos von toten, durch Einschüsse zerfetzten Körpern. Es sind Aufnahmen von Ian Berry, der ein Jahr zuvor mit seiner Kamera das Sharpeville-Massaker dokumentiert hatte. Schwarze hatten gegen die Passgesetze demonstriert und die Polizei hatte in die fliehende Menschenmenge geschossen. 69 Menschen wurden getötet, hunderte verletzt.

William Kentridge erzählt später, diese erste Begegnung mit Gewalt sei ein lang nachwirkendes Kindheitserlebnis gewesen. Allerdings ein lang verschüttetes. Erst 33 Jahre später, als er mit forensischen Fotos von Getöteten an seinem Animationsfilm Felix in Exile (1994) gearbeitet habe, sei die Erinnerung an die grausigen Bilder in der Schachtel zurückgekehrt.

William Kentridge entstammt einer jüdischen Familie mit langer Juristentradition. Beide Eltern kämpfen in Johannesburg als Menschenrechtsanwälte für die Rechte der Schwarzen und gegen die Rassentrennung. Williams Mutter Felicia, Tochter der ersten Anwältin Südafrikas, gehört 1979 zu den Begründer*innen des Legal Recource Centre. Das Centre unterstützt tausende arme Südafrikaner*innen vor Gericht und kämpft erfolgreich gegen die erzwungene Vertreibung ländlicher afrikanischer Gemeinden von ihrem Land.

Williams berühmter Vater Sidney Kentridge, Nachfahre litauischer Einwanderer, kann in einem vierjährigen Prozess, dem Treason Trial, den Freispruch für Nelson Mandela und viele andere Apartheid-Gegner erwirken. 1977 deckt er die Polizeigewalt auf, die zum Tod des Führers der Black-Consciousness-Bewegung Steve Biko führte. Bürgerrechtler wie der Friedensnobelpreisträger und Kopf des ANC Albert Luthuli gehen im Haus der Kentridges ein und aus.

Solche Begegnungen, die Empörung der Mutter über Falschaussagen von Polizisten und die abendlichen Gespräche schärfen den Sinn des Jungen für das, was im Land passiert.

Sohn William bricht mit der Familientradition, studiert nicht Jura, sondern bis 1982 Politikwissenschaft und Afrikanistik, später Schauspiel und Theaterwissenschaften in Johannesburg und Paris. Früh schließt er sich der Anti-Apartheid-Bewegung an, ist 1976 Mitbegründer der Theatergruppe Junction Avenue Theatre Company. Er engagiert sich in Gewerkschaftspolitik, gestaltet politische Plakate. Doch vom didaktischen Einsatz von Kunst als einem Mittel politischer Arbeit wendet er sich bald entschieden ab.

Sein künstlerisches Zuhause wird die Kohlezeichnung. Aus seinen Zeichnungen entstehen Filme, aber auch Regiearbeiten oder Performances.

»Das Fehlen jeder politischen Botschaft in meinen Werken ist Ausdruck meiner Skepsis gegenüber jeglicher Gewissheit.« Gewalt, so Kentridge, entstehe immer im Namen der rationalen Gewissheit. Robespierre habe im Namen der Vernunft Köpfe abschlagen lassen und auch den Kolonialismus prangert Kentridge als eine Manifestation der Aufklärung an. Kunst wiederum erfülle eine politische Aufgabe, indem sie das Ungewisse verteidige. In der Kunst seien Mehrdeutigkeit und Widersprüchlichkeit zentrale Momente und eben nicht bloß Fehler am Rande des Verstehens.

Diese Überlegungen legt Kentridge ausführlich in Vorträgen dar, den Six Drawing Lessons. Seine Ausführungen wirken wie ein Abarbeiten an seinem rational argumentierenden Vater und dessen Frage an den Sohn: Macht es Sinn, was du tust? Und als Sohn antwortet Kentridge, er versuche nicht, diese Frage des Vaters zu beantworten, sondern sie zu entmachten, um in der Kunst zu Sinn außerhalb von Logik und Sprache vorzudringen.

Auch wenn er keine politischen Botschaften vermitteln will – das Werk von William Kentridge ist eminent politisch, getragen von einem tiefen Humanismus. Seine frühen Arbeiten auf Papier verraten den Einfluss von russischem Konstruktivismus und deutschem Expressionismus. »Die frühe Moderne, die das Soziale und das Menschliche im Blick behielt, ist mir näher als die Abstraktion und die Emanzipation der Farbe«, sagt der Künstler.

Kentridge bleibt beim Schwarzweiß. Das Durchmessen des Raums in seinem Studio in Johannesburg ist ein immer neues Ausloten von Weltwahrnehmung und Kunst, von Fantasie und Erinnerung, von Geschichte, Politik und der Natur menschlicher Emotionen. Kentridges Filme entstehen ohne Drehbuch oder Storyboard aus einer Setzung oder einer Idee. Kohle- und Pinselstriche nehmen Gestalt an, Schritt für Schritt. Zeichnen, ausradieren, wieder zeichnen. Ausgang ungewiss.

Als weißes Kind aus der Mittelschicht gehörte Kentridge zu den Privilegierten. »In Südafrika gingen Privileg und Bequemlichkeit immer zu Lasten einer anderen Person«, so Kentridge. »Sich seiner privilegierten Position bewusst zu sein, bedeutete, Verantwortung zu übernehmen und nicht einfach seine Zeit zu verplempern. Diese Einstellung war mit einem Arbeitsethos verbunden – dem Bedürfnis, die im Atelier verbrachte Zeit zu legitimieren.«

Das Bewusstsein um seine Verantwortung ist seinem Tun als Künstler eingeschrieben. Aber auch das ewige Hadern: Inwieweit darf und kann ich als weißer Künstler für die Sache der Schwarzen eintreten?

Der Künstler bleibt in Südafrika, während zwei seiner Onkel und eine Tante auswandern, weil sie nichts mit dem Apartheidsregime zu tun haben wollen. Kentridge studiert an der Witwatersrand-Universität in Johannesburg, benannt nach dem Höhenzug, wo der Australier George Harrison 1886 als erster auf Gold stieß und den Goldrausch auslöste.

Kentridge bleibt in Johannesburg, in der Stadt, in der die Spuren des Kolonialismus gegenwärtig sind. Wo gerungen wird um die angemessene Ehrung der Opfer des Freiheitskampfs und um die bleibende Erinnerung an die Gräueltaten der Kolonialgeschichte und die Ungerechtigkeiten des Apartheidsregimes. Die Verbindung zu den Menschen in Südafrika sei fundamental für ihn, so Kentridge. Seine Kunst sei durchdrungen »by what it is to be here.«

Prozessionen tauchen in seinem Werk schon 1989/90 auf, als sich das Apartheid-System aufzulösen beginnt. In Shadow Procession (1999) bewegen sich Silhouetten von links nach rechts. Vorbei zieht eine Parade gebeugter Menschen, von denen die meisten etwas auf dem Rücken tragen: Kinder, Schaufeln, Gewehre, Körbe oder Körper. Sie rufen Bilder wach von Flucht, Vertreibung, Migration, Bürgerkrieg, Todesmärschen, Genozid. Kentridge bezieht sich mit seinen Prozessionen nicht auf bestimmte historische Situationen, lässt aber Zeitgeschichte einfließen.

In der monumentalen Panoramaprojektion More sweetly play the dance (2015), wo sich Zeichnung, Schattenspiel, Performance, Tanz, Musik, Film und Projektion überlagern, finden sich Anklänge an die damals grassierende Ebola-Epidemie. Den Titel entlehnt Kentridge aus Paul Celans Gedicht Todesfuge. Skelette, tanzende und Fahnen schwingende Menschen, flatternde Transparente, Minenarbeiter mit ihren Spaten, Kranke am Tropf, eine Blaskapelle - das ist Festumzug und Totentanz in einem, religiöse Prozession und Demonstration, Karneval und Flüchtlingsstrom, ohne Anfang und Ende.

William Kentridge, More sweetly play the dance, 2015. Installationansicht Deichtorhallen Hamburg. Foto: Henning Rogge

Kentridge hat den Völkermord an den Herero und Nama thematisiert, auch die Kongo-Gräuel unter dem belgischen König Leopold II. Schon der Titel der Hamburger Ausstellung verweist auf Krieg und Kolonialismus. Mit dem Ausstellungstitel WHY SHOULD I HESITATE zitiert der Künstler die Worte eines Schwarzen, der von seinen Kolonialherren im ersten Weltkrieg eingezogen wurde. Afrikaner*innen wurden als Lastenträger, sogenannte Carrier, zwangsrekrutiert.

Mit der überbordenden, bildgewaltigen Theateraufführung The Head & The Load (2018) mit 40 Schauspieler*innen, Musik, Tanz, Projektion und Schattenspiel rief Kentridge diese schwarzen Opfer des Ersten Weltkriegs ins Gedächtnis, die kaum im öffentlichen Bewusstsein präsent sind. Die geschätzten Opferzahlen gehen weit in die Millionen. Sie schwanken, denn die Teilnahme der Afrikaner und ihr Tod wurden gezielt unter den Teppich gekehrt. The Head & The Load, so Kentridge, sei in erster Linie eine Würdigung jener undokumentierten Toten, beschäftige sich aber auch mit den aktuellen Folgen des Kolonialismus wie den Migrant*innen, die nach Europa zu gelangen versuchen.

Seine Animationsfilme Drawings for Projection, beginnend 1989, machen Kentridge international bekannt. Einer der beiden Hauptcharaktere ist Soho Eckstein, der Zigarre-rauchende Minenbesitzer im Nadelstreifenanzug aus Johannesburg. Der neueste und elfte Film der Soho-Serie City Deep (2020) ist vor Kurzem fertig geworden. Der andere Charakter in der Reihe ist Felix Teitelbaum. Felix trägt die Züge des Künstlers und sein moralischer Skeptizismus reflektiert Kentridges eigene Erfahrung als Künstler in Südafrika.

William Kentridge, Drawings for The Head & The Load, 2017-18. Courtesy William Kentridge Studio.

In der Kunst von Kentridge ist alles in Bewegung. Nichts ist gewiss. Jedes Stadium ist vorläufig. Beim Hinzufügen und Ausradieren hinterlässt die Kohle Spuren – Spuren der Tage und Monate, die er an den Zeichnungen gearbeitet hat. Die Filme werden zu Protokollen über das Vergehen der Zeit. Denken in Zeitlupe. Verdichtete Zeit.

So wie sich die Bilder in Kentridges Animationsfilmen in ständiger Metamorphose befinden, so sind es auch die künstlichen gelb-braunen Hügel im Umkreis von Johannesburg. Es handelt sich um Abraumhalden von Goldminen, unter denen sich im Untergrund ein Labyrinth aus Stollen und Schächten erstreckt. Die Deponien sind Teil der Landschaft und gleichzeitig versetzbare Dinge. Der Sand enthält minimale Reste von Goldstaub, und sobald der Goldpreis hoch genug ist, lohnt es sich, die Hügel wieder zu durchsuchen.

Im Film Felix in Exile (1994) zeichnet Kentridge Körper getöteter Menschen, wie gewohnt im Wechsel von Zeichnen und Ausradieren. Es wirkt, als würde die Landschaft die Körper absorbieren und sich so in die Hügellandschaft Johannesburgs verwandeln. Die diffusen Flecken, die durch das Ausradieren der Kohle entstehen, tragen die Erinnerung an das Gewesene.

Felix in Exile entstand kurz vor der Wahl Nelson Mandelas zum Präsidenten Südafrikas, die das Ende der Apartheid markierte. Kentridge beschäftigte damals die Frage, wie man der vielen, vielen Opfer auf dem Weg dorthin gedenken könne.

William Kentridge hat den Veränderungsprozess in Südafrika mit wacher Zeitgenossenschaft und lebhafter Fantasie begleitet. Mit einer Kunst, in der die Magie bewegter Bilder, die Poesie des Scherenschnitts, die politische Welt sowie virtuose, fast altmodisch-naturalistische Zeichnung und moderne mediale Technik eine einzigartige Verbindung eingehen.

Melanie von Bismarck arbeitet als freie Kulturjournalistin und Autorin, unter anderem für den NDR. Darüber hinaus produziert sie Audio-Guides für Ausstellungshäuser.

Die Ausstellung WILLIAM KENTRIDGE – WHY SHOULD I HESITATE: PUTTING DRAWINGS TO WORK ist bis zum 18. April 2021 in der Halle für aktuelle Kunst zu sehen.


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