FOTO: JOHAN JACOBS / COURTESY WILLIAM KENTRIDGE STUDIO

Den Augenblick entzünden

Der Künstler William Kentridge hat sich längst auch als Opernregisseur einen Namen gemacht. In seinen hochpolitischen Inszenierungen lässt er das Individuum an den herrschenden Machtverhältnissen verzweifeln. VON JULIA JOST

18. Februar 2021

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Eine bekannte Persönlichkeit des Kunstbetriebs nennt William Kentridge einen nicht explizit politischen Künstler und geht sogar so weit zu sagen, dass man ihn außerhalb des Politischen lesen müsse. »Nicht explizit«, hallt es in mir nach. Wie soll das gehen? Herr Kunstmensch, bitte helfen sie mir! Ich werde in den folgenden Absätzen versuchen, anhand von William Kentridges Operninszenierungen die Fährten hin zum unpolitischen Künstler zu lesen. Und scheitern daran.

Unsere Spurensuche beginnt in einem vollkommen verrauchten Büro des Hinterhauses eines Operngebäudes, letzte Etage. Dort sitzen der Regisseur und verschwitzter Dramaturg, der vor sich einen Stapel Bücher aufgetürmt hat. Kentridge sieht nur seine runzlige Stirn. Der Dramaturg spricht hektisch, der Bücherstapel vibriert. Daneben der Intendant, streng, wohlernährt, wortlos, ketterauchend.

Dieses Szenario wiederholte sich bisher einige Male und ließ Kentridge früher oder später darüber gewahr werden, dass er jetzt für unverschämt viel Geld zum Beispiel Lulu und Wozzeck von Alban Berg, Montiverdis Il ritorno d’Ulisse in patria, Die Zauberflöte von Wolfgang Amadeus Mozart oder Schostakowitschs Die Nase inszenieren darf. Und auch das Bühnenbild liegt in seiner Hand. Aber zurück ins Operngebäude. Kentridge fährt mit dem Fahrstuhl nach unten, hier unten begegnet er wieder Frauen, Arbeiter*innen und Sauerstoff.

Erster Akt des Unpolitischen: Ein Opernhaus ist ein oft durch Steuergelder finanzierter Raum für die bildungsbürgerliche Oberschicht, ein zumeist von älteren Männern geleitetes Haus. Operntickets sind in der Regel teuer, das Libretto sollte man kennen oder muss es mitlesen, weil die manierierte Gesangskunst auf Kosten der Verständlichkeit geht.

Opernbesuchende kennen die Inhalte meist und lieben die jeweilige Oper hauptsächlich wegen der einen Lieblingsarie, die irgendwann im letzten Drittel drei Minuten lang erklingt. Oder sie freuen sich von Anfang an auf die Stelle, an der die Regie entschieden hat, einen Fremdtext einzuarbeiten und von einem Schauspieler, oder einer Schauspielerin, sprechen zu lassen. Dann hagelt es Buhrufe und es knallen die Türen beim Verlassen des Saales. »Was bildet der sich eigentlich ein?« heißt es von Seiten des Publikums, das schließlich bezahlt hat, um »ihren« Offenbach zu sehen, oder »ihren« Mozart.

Kentridge studierte Politik und Afrikanistik in Johannesburg, in den frühen 80er-Jahren Schauspiel in Paris an der berühmten École internationale de Théâtre Jacques Lecoq und arbeitete auch als Schauspieler und Regisseur. Sein Weg führte von der Performance und theatralen Kunst zum Bild und wieder zurück zum Dramatischen. Kentridges Bildwelten sind stets mit sozialen und dadurch hoch emotionalen Fragen und Themen aufgeladen. Insofern stehen seine Werke – Zeichnungen oder Filme – der Oper immer sehr nahe und der Schritt zum Inszenieren wirkt triftig, als Erweiterung seiner Bilder in den dreidimensionalen Raum.

Er selbst sagte, dass er an der Theaterhochschule gelernt hat,
Energie so zu modellieren, dass sie stets den nächsten Augenblick entzündet.

Aber auch Kentridges Elternhaus dürfte eine tragende Rolle für sein künstlerisches Schaffen spielen: seine Eltern vertraten als Anwälte Aktivist*innen der Anti-Apartheid-Bewegung. Der Vater, Sir Sydney Kentridge, verteidigte Nelson Mandela während seiner Haftzeit. Schon alleine in der Auswahl der Opern zeigt sich seine politische Haltung, als Interesse für das Groteske (Die Nase), für Ungerechtigkeit, auch im Hinblick auf Geschlechterfragen (Lulu), in Hinblick auf Klassenfragen (Wozzeck), oder aber in Bezug auf die Fehlbarkeit des Menschen, der seinen Affekten und seiner Vergänglichkeit erlegen ist (Die Heimkehr des Odysseus).

Kentridge interessieren Gefüge, die menschliche Seelen brechen können und er »animiert« und orchestriert das Opernensemble in seinen comichaften Bühnenwelten so, dass soziale Fragen aufgeworfen und diese im Hinblick auf ihre emotionale Dimension beantwortet werden.

Zweiter Akt des Unpolitischen: Kentridges Interesse bei seiner Auswahl der Stoffe scheint geprägt von den tiefen Wunden, die Sozialgefüge als Austragungsort des Politischen hinterlassen können. In seinen Inszenierungen spielen Ambivalenz und das Groteske des menschlichen Handelns allerdings eine besondere Rolle. Seine Welt will sich nicht in Gut und Böse teilen lassen.

Im Januar 2020 inszenierte William Kentridge Alban Bergs Wozzeck an der Metropolitan Opera in New York, dirigiert von Yannick Nézet-Séguin. Der Bariton Peter Mattei gibt die Titelrolle, Marie wird gespielt von der Sopranistin Elza van den Heever. Die Inszenierung folgt seiner Wozzeck Inszenierung für die Salzburger Festspiele 2017.

Die berühmte Rasurszene zeigt Kentridge nicht. Anstatt zu rasieren, bedient Wozzeck einen Projektor und damit ist das Fenster zur individuellen Wirklichkeit als Verortung in der Zeit und Gesellschaft geöffnet. Kentridges animierte Kohlezeichnungen zeigen neben Marie, als Akt spazierend, in erster Linie Kriegsbilder. Seine Bilder nehmen die komplette Bühnenwand ein, so dass die Protagonist*innen auf der Bühne fast davon verschluckt werden, im wilden Gewusel verschwinden. Man sieht bewaffnete Kinder, einen vorbeifliegenden Zeppelin, Bomben, Gasmasken, Flugzeuge, verwundete Kinder, verwüstete Wälder, Stacheldraht und zerstörte Dörfer.

Kentridge zeigt eine kriegsgeschundene Gesellschaft. An einer kurzen Stelle lässt er sogar Realbilder von einer uniformierten, afrikanischen Kinderkapelle projezieren. Kentridges Verweis auf die politische Gegenwart und das Schicksal von Kindersoldaten ist unmissverständlich.

Die Bühne hat viele Ebenen, Stege, Treppen. Wozzecks Gefährte Andres schnitzt keine Stöcke, sondern trägt Stühle, die einen beträchtlichen Bestandteil des Bühnenbildes ausmachen. Neben den Projektionen lässt auch die Überladung der Bühne die Darsteller*innen klein wirken. Es ist gerade diese Opulenz und Dominanz von Bühne und Projektion, in der sich die Figuren wie die Darstellenden ihren Platz suchen müssen. Frei handeln und atmen kann hier niemand.

Schließlich: Woyzecks Mord an Marie erscheint in Georg Büchners Dramenfragment als kraftloser Impuls eines Mannes, der seinen einzigen Besitz, nämlich seine Frau, verloren hat (Marie geht ein Verhältnis mit dem höher gestellten Tamburmajor ein). An seiner Frau bemisst sich sein einziges Fünkchen Wert, der sich daran bemisst, dass er Marie Geld nachhause bringt. Maries Fremdgehen lässt Woyzeck in vielen Inszenierungen mit nervös hysterischer Ohnmacht, mit einem blutigen Mord als Opfergabe an seine Würde, reagieren.

Kentridges Wozzeck allerdings opfert nicht. Marie liegt tot am Boden, Wozzeck steht, schaut leer hin. Ein Wozzeck, der mit der Welt nicht mehr verbunden ist.

Letzter Akt des Unpolitischen: Kentridge versetzt Wozzeck in den Krieg, obwohl bei Büchner davon nicht die Rede ist. Und er verweist mithilfe seiner bildgewaltigen Bühne auf das existenzialistische Moment, das denjenigen zuteilwird, die keine Entscheidungen von größerer gesellschaftlicher Relevanz oder nicht einmal für sich selbst treffen können. Als Ergebnis sieht das Publikum hier einen Wozzeck mit nihilistisch leerem Blick, ein Ergebnis seines Ausgeschlossenseins.

Zumindest als Opernregisseur zeigt sich William Kentridge als jemand, der es versteht Individuen zu skizzieren, die in ein Machtfeld hineingeworfen sind, aus dem es scheinbar kein Entkommen gibt und das Reflexe und Leid auslöst. Auf der letzten Stufe ihrer Handlungsmöglichkeiten antworten seine Individuen auch mit dem Tod.

Ich erlebe Kentridges Opern als gelungen darin, die Ablagerungen von Machtausübung in sozialen Mikrobereichen offenzulegen und habe insofern zwar versucht, anhand seiner Operninszenierungen, die Fährten hin zum unpolitischen Künstler zu lesen, bin aber – wie angekündigt – daran gescheitert.

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Julia Jost ist Theaterregisseurin, Schriftstellerin und Essayistin. Sie erhielt 2019 den Kelag Ingeborg-Bachmann-Preis und ist derzeit Literaturstipendiatin des Berliner Senats.

Die Ausstellung WILLIAM KENTRIDGE – WHY SHOULD I HESITATE: PUTTING DRAWINGS TO WORK ist noch bis 1. August 2021 in den Deichtorhallen Hamburg zu sehen.


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