FOTO: PAUL S. TAYLOR

Bittere Zeiten

Vor 85 Jahren fotografierte Dorothea Lange das Elend und den Überlebenskampf amerikanischer Farmerfamilien. Ihre ikonischen Bilder von der Großen Depression beeinflussen Fotografen wie Matt Black bis heute. VON ULRICH RÜTER

20. Januar 2021

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Mit seinem aufwendigen Projekt AMERICAN GEOGRAPHY hat sich der Fotograf Matt Black in die Geschichte der amerikanischen Dokumentarfotografie eingereiht. Black reiste über 100.000 Meilen durch 46 US-Bundestaate und Gemeinden, deren Armutsquote über 20 Prozent liegt. Häufig ist der Vergleich zwischen AMERICAN GEOGRAPHY und den Fotograf*innen der Farm Security Administration gezogen worden, die fast ein Jahrhundert zuvor in der Depressionszeit der Dreißigerjahre die Überlebenskämpfe und die Armut der Wanderarbeiter*innen in den USA dokumentierten. Tatsächlich gibt es zahlreiche Verbindungen zwischen den beiden Projekten, doch verfolgt Black einen deutlich komplexeren Ansatz.

Vor 85 Jahren entstand mit Migrant Mother eine der bekanntesten Fotografien des 20. Jahrhunderts. Kein anderes Motiv der Dokumentarfotografie wurde vermutlich so häufig publiziert wie die heute unter dem Titel geläufige Aufnahme. Längst wird sie auch auf dem Kunstmarkt hoch gehandelt.

Doch welche Hoffnung hatte Florence Thompson damals, als sie resigniert an der Kamera von Dorothea Lange vorbeischaute? Konkrete Hilfe konnte die Fotografin der Frau mit ihren sieben Kindern kaum anbieten. Aber vielleicht konnten ihre Bilder dazu beitragen, Aufmerksamkeit auf das Heer der verzweifelten Wanderarbeiter*innen zu lenken, um somit auch ihr und ihrer Familie Unterstützung zukommen zu lassen.

Etwa 650.000 Farmerfamilien lebten 1930 in ständiger Armut. In den Südstaaten der USA waren besonders viele von der damaligen Wirtschaftskrise, deren Jahrzehnt bis heute auch als »Bitter Years« bezeichnet werden, betroffen. Die Serie von Dürreperioden auf den Ackerflächen des Mittleren Westens und des Südwestens zwang abertausende von Wanderarbeiter*innen, sich in anderen Bundesstaaten um Arbeit zu bemühen. Im Zuge der Politik des New Deal unter dem Präsidenten Franklin D. Roosevelt war die Farm Security Administration gegründet worden, um der verarmten Landbevölkerung zu helfen.

Doch es ist vor allem das ambitionierte Fotografieprojekt von über zwanzig Fotograf*innen, die verpflichtet wurden, das Elend zu dokumentieren und die Politik des »New Deal« visuell zu propagieren, das Geschichte schrieb. An dem – laut Susan Sontag – »anspruchvollsten fotografischen Gemeinschaftsprojekt, das jemals in den USA durchgeführt wurde« waren zwischen 1935 bis 1942 so prominente Vertreter wie Walker Evans, Gordon Parks, Ben Shahn oder Todd Webb beteiligt. Etwa ein Drittel waren Fotografinnen. Dorothea Lange (1895–1965), damals in San Francisco ansässig, zählt heute zu den bekanntesten unter ihnen, nicht zuletzt, weil sie mit Migrant Mother das plakativste Motiv der gesamten Kampagne fotografiert hatte.

»Mittellose Erbsenpflückerin in Kalifornien. Mutter von sieben Kindern. Alter zweiunddreißig. Nipomo, Kalifornien« ­­– die Bildunterschrift stammt von Lange selbst. Die Fotografin hatte Florence Thompson in einem Lager für Arbeit suchende Erbsenleser*innen in der Nähe des kalifornischen Dorfes Nipomo gefunden. »Mehr als 2.500 Menschen lebten in diesem Lager«, erinnerte sich Lange später, »den meisten fehlte es an allem.«

Insgesamt sieben Aufnahmen machte die Fotografin von der Mutter und ihren Kindern vor ihrem provisorischen Zelt, sich dabei sukzessiv immer mehr den Protagonist*innen nähernd. Das vermutlich letzte Bild konzentriert sich ganz auf die Mutter, flankiert von zwei sich abwendenden Kindern mit zerzaustem Haar und mit ihrem im Schoß platzierten Säugling. Zelt und Umfeld sind fast komplett ausgeblendet.

Diese Vorgehensweise machte das Bild vieldeutig interpretierbar. Aus dem zunächst dokumentarisch verstandenen Bild wurde im Laufe der folgenden Jahrzehnte eine fotografische Ikone, die sich immer weiter vom ursprünglichen Aufnahmekontext entfernte. Die archetypische Mutter-Kind-Konstellation erinnert an Madonnen-Darstellungen, eine Pietà mit zwei Assistenzfiguren als »Madonna in bitterer Zeit«.

Das Motiv erhielt fast mythische Bedeutung – nicht zuletzt, weil es Teil der berühmten Ausstellung The Family of Man von 1955 im New Yorker Museum of Modern Art war. In diesem Bild sollte sich das Selbstbewusstsein eines ganzen Landes spiegeln, das auch die widrigsten Umstände übersteht.

Dass ihr ein besonderes Bild geglückt war, war auch der Fotografin rasch klar. Sie gab Abzüge an die San Francisco News weiter, die erstmals zwei Motive der Serie in ihrer Ausgabe vom 10. März 1936 druckte. Ein Bericht unter der Überschrift »What Does the New Deal Mean To This Mother and Her Children« folgte am nächsten Tag. Das Bild wurde in der Folgezeit landesweit medial verbreitete und zum fotografischen Manifest der Großen Depression.

Dorothea Langes Fotografien von der ländlichen Not in Kalifornien und im amerikanischen Südwesten stehen historisch betrachtet in einer Reihe sozialdokumentarischer Serien von Fotografen wie Jacob A. Riis und Lewis Hine. Mit dem Wissen um die Wirkung und Einflussmöglichkeiten engagierter Dokumentarfotografie wollte auch die Informationsabteilung der FSA unter der Leitung von Roy Stryker Pressebilder und Texte publizieren, um »Amerika den Amerikanern nahezubringen«. Die FSA-Fotograf*innen waren angehalten, die Fotografien mit knappen Informationen zu versehen, um sie möglichst objektiv und dokumentarisch verwenden zu können. Zu einer heftigen Kontroverse kam es zwischen Lange und Stryker als dieser erfuhr, dass die Fotografin auf dem berühmten Bild am rechten Bildrand einen störenden Daumen am Zeltpfosten nachträglich retuschiert hatte.

Diese Veränderung entsprach zwar nicht den objektiven Vorstellungen des Auftraggebers, aber umso mehr der künstlerischen Perfektion der Fotografin. Daher gibt es bis heute auch zwei Versionen der Migrant Mother – einmal mit und einmal ohne Daumen.

Matt Blacks Herangehensweise ist mit Dorothy Langes vergleichbar. Auch er möchte mit seinen Bildern aufrütteln, informieren und seinen Protagonist*innen sowie ihren Lebensumständen Aufmerksamkeit verschaffen. Allerdings nutzt er zeitgemäß die Möglichkeiten des Internets genauso wie die museale Präsentation.

Anders als Langes Auftragsarbeiten, entstehen Blacks Aufnahmen aus eigener Initiative. Sein Ausgangspunkt ist sein Wissen als Insider, der selbst in einer der ärmsten Gegenden Kaliforniens lebt. Zwar sieht auch er sich in der Tradition der Dokumentarfotografie und dem besorgten Humanismus verpflichtet, doch seine Serie betont den subjektiven Ansatz, der sich vom klassischen Dokumentarismus entfernt hat. So postete er seine Reiseroute und Motive zunächst auf Instagram, verknüpfte sie mit Karten des Landes und verwies auf die aktuelle Wirtschafts- und Sozialgeschichte des Landes, um eine umfassende Geschichte der Armut in den USA im 21. Jahrhundert aufzuzeigen.

Während Lange nur stichwortartige Fakten aus dem Gespräch mit Florence Thompson überlieferte, versucht Black seine Reiseerfahrungen komplexer einzubringen. Er dokumentiert seine tagebuchartigen Notizen, führt Interviews.

Ebenso wie bei Lange respektieren auch die von Black porträtierten Menschen die Anwesenheit der Kamera, vielleicht in der Hoffnung, dass die zugelassenen Aufnahmen ihre Situation zukünftig verändern wird. Den Vorwurf, dem sich auch die FSA-Fotograf*innen ausgesetzt sahen, er würde seine Protagonist*innen ausnutzen, sich an deren Armut bereichern, weist Black zurück. Seine Arbeit versteht er als Kollaborationen: »Wie sonst könnte man diese intimen Räume betreten? Es ist ein gemeinschaftlicher Prozess, der diese Bilder erzeugt.«

Der größte Unterschied zu den FSA-Fotograf*innen besteht bei Black allerdings darin, dass er die Komplexität des amerikanischen Armutsproblems nicht auf eindeutige Lesarten reduziert. Jedes Bild ist auf seine eigene Art ergreifend. Armut, Umweltprobleme, die Diskriminierung von Afro-Amerikaner*innen oder Einwander*innen tauchen auf, sind aber nicht durchgängig sichtbar. So ist beispielsweise eine klauenartige, faltige Hand, die auf einem verwitterten Holzpfosten liegt, offen für assoziative Interpretationen. Black arbeitet mit einer reduzierten Symbolik. Die Personen agieren in einem Umfeld, das erst in der Zusammenschau ein Bild des Ganzen ergibt.

Blacks Landschaften erscheinen oft post-apokalyptisch, deprimierend. Oft herrscht eine surreale Atmosphäre: Vögel auf Stromleitungen, die an Hitchcock-Filme erinnern, zertrümmerte Briefkästen, leere Häuser. Black orchestriert das Ende des amerikanischen Traums, es gibt keine Hoffnung mehr.

Die aktuelle Situation beschreibt Black als absolut konträr zu den damaligen FSA-Initiativen der Roosevelt-Regierung. Jetzt gäbe es keinerlei Aufmerksamkeit, staatliche Fürsorge würde durch Bestrafung und Bosheit ersetzt. Wer heute arm ist, bleibe auch arm. Es fehle an sauberem Wasser, sauberer Luft und Gesundheitsfürsorge. Entsprechend niedrig sei die Lebenserwartung in den armen Regionen der USA.

Ist es heute überhaupt noch möglich, ein ikonisches Motiv wie die Migrant Mother zu finden? Für Black ist das vorstellbar, wie er in einem Magnum-Interview mit Fred Ritchin sagt, allerdings »geht jetzt mehr um eine nachhaltige Auseinandersetzung als um das einzelne Bild. Und vielleicht ist das auch gut so.«

Für seine Ausstellung AMERICAN GEOGRAPHY hat Black rund 80 Motive aus seinem Projekt ausgewählt. Es wird nicht gelingen, eines aus dieser Auswahl als das ikonische Motiv festzumachen. Genau hier liegt aber auch die Leistung des Fotografen: Er überzeugt mit jedem einzelnen Bild und lässt erst in der Zusammenschau des Mosaiks ein Gesamtbild erkennbar werden, das umso nachhaltiger wirkt.

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Ulrich Rüter ist Fotografie- und Kunsthistoriker und lebt in Hamburg. Als freier Autor, Dozent und Kurator arbeitet er für zahlreiche Magazine und Institutionen, so unter anderem auch für die Deichtorhallen Hamburg, zuletzt als kuratorischer Berater der 7. Triennale der Photographie.

Die
Ausstellung MATT BLACK – AMERICAN GEOGRAPHY ist bis zum 28. Februar 2021 im Haus der Photographie der Deichtorhallen Hamburg zu sehen.

Fotos: Dorothy Lange, Destitute pea pickers in California. Mother of seven children. Age thirty-two. Nipomo, California, 1936. Courtesy Library of Congress, Matt Black, Buffalo, New York, 2015 © Matt Black / Magnum Photos, Matt Black, Allensworth, California, 2014 © Matt Black / Magnum Photos


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