FOTO: KIM SPERLING

»Der Atlas ist ein Erkenntnisinstrument«

Der berühmte Bilderatlas von Aby Warburg setzte neue Maßstäbe in der Kunstgeschichte. Axel Heil und Roberto Ohrt haben ihn nun erstmals vollständig rekonstruiert. Ein Gespräch über Deutungsversuche, Frauenfiguren und wie sich der Bilderatlas von Google unterscheidet. VON VERONIKA SCHÖNE

9. September 2021

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Axel Heil, Roberto Ohrt, rund zehn Jahre haben Sie mit einer Gruppe von Künstler*innen und Kunsthistoriker*innen, nun an dem »Mnemosyne«-Atlas von Aby Warburg geforscht. Wie sind Sie auf dieses Thema gekommen? Es liegt ja nicht gerade auf der Hand...
Roberto Ohrt: Auf Umwegen. Ein Bekannter hat sich mit dem Bilderatlas beschäftigt, und im Zuge dessen haben wir festgestellt, dass in den gängigen Ausgaben fast nichts zu sehen ist. Warburg hat seine Abbildungen auf 1,40 x 1,70 m großen Stellwänden arrangiert, und wenn man die auf etwas über DIN A4 Größe verkleinert, sieht man nur noch Rasterpunkte. Also haben wir uns überlegt, ob man diese Tafeln nicht in Originalgröße rekonstruieren und ausstellen könnte. Das hat zuletzt die Wiener Forschungsgruppe Daedalus in den neunziger Jahren gemacht, diese Rekonstruktion dann aber recht kleinformatig publiziert. Über die Rekonstruktion haben wir uns dem Atlas auch inhaltlich genähert.

Sind die Tafeln in der Literatur nicht bereits im Detail ausgedeutet?
Roberto Ohrt: Teilweise sind sie gut erforscht, wie etwa die Tafel 39 mit den Hauptwerken des italienischen Renaissancekünstlers Sandro Botticelli, über den Warburg bereits seine Doktorarbeit geschrieben hatte. Den ersten umfassenden Deutungsversuch des Bilderatlas unternahm Dorothée Bauerle, in ihrer Dissertation unter dem Titel Gespenstergeschichten für ganz Erwachsene in den 1980er Jahren publiziert. Sie hat auch den ersten Index mit Bildlegenden angelegt. Die Wiener Forschungsgruppe Daedalus, die in den neunziger Jahren bereits eine erste Rekonstruktion des Atlas vorgenommen hat, konnte auf ihrer Grundlage weiterarbeiten. Auch das Buch des Akademie-Verlages aus dem Jahr 2000, das gemeinhin als die Publikation des Warburg-Atlas gilt, fußt darauf. Der vom Verlag im Editionsplan der Gesammelten Schriften angekündigte Kommentarband dazu ist nie erschienen. So haben wir letztlich freies Gelände betreten.

Ausstellung ABY WARBURG: BILDERATLAS MNEMOSYNE. DAS ORIGINAL in der Sammlung Falckenberg. Foto: Henning Rogge

Das ist erstaunlich, gilt Aby Warburg doch als zentrale Figur nicht nur der Kunstgeschichte, sondern auch der modernen Bildwissenschaft. Seit rund 20 Jahren widmet sich diese erweiterte Kunstgeschichte auch anderen Bildgattungen - wie etwa aus dem Alltag und den Naturwissenschaften -, was Warburg bereits in den 1920er Jahren vorgemacht hat. In dem Bilderatlas benutzt er auch Material aus der Werbung und den Massenmedien.
Roberto Ohrt: Ausschlaggebend für die vorherrschende Sicht auf das nicht vollendete Spätwerk war die falsche Einschätzung, die Ernst Gombrich 1970 in seiner Intellektuellen Biographie geprägt hat. Gombrich berichtet, dass Warburg je nach Laune die Tafeln permanent umgebaut habe, und legt damit nahe, dass sie letztlich willkürlich zusammengestellt sind. Der Atlas galt seither nicht nur als nicht vollendet, sondern als grundsätzlich nicht abschließbar, weil es ein zu großes Unterfangen war. Warburg ist tatsächlich 1929 vor der Vollendung des Atlas verstorben, aber das heißt nicht, dass das, was er hinterlassen hat, kein ernst zu nehmendes wissenschaftliches Instrument ist. Vergleicht man den letzten Zustand mit den dokumentierten Vorversionen, sieht man, dass er alles andere als willkürlich gehandelt hat, sondern es ihm vielmehr um eine immer größere Präzisierung ging.

Axel Heil: Wir haben am Anfang auch gedacht, dass alles veränderbar ist. Wir hätten uns ja in Wien die rekonstruierte Atlas-Version der Forschungsgruppe Daedalus ausleihen können, aber die ist fixiert. Sie haben die Fotodokumentation von 1929 damals auf die proportional rekonstruierten Tafelmaße vergrößert. Auch deshalb haben wir uns eine 1:1-Rekonstruktion, alle Teile variabel, 63 Tafeln im Ganzen, selbst gemacht. Die Arbeit war bestmöglich damals. Im Unterschied zu Daedalus Anfang der 1990er Jahre hatten wir seit 2011 weit bessere reproduktionstechnische Möglichkeiten, um die jeweils bestmöglichen Abbildungen der Einzelelemente herzustellen. Wir sind sogar zusammen mit Philipp Schwalb nach Italien gefahren und haben einiges nochmals vor Ort aufgenommen. Das war hilfreich, um einige Reproduktionsfragen zu klären.

Roberto Ohrt: Aufgrund unserer größeren Facsimile-Reproduktionen konnten wir dann einige entscheidende Details überhaupt erst erkennen, die im Buchformat des Atlas, der »blauen Schachtel« schlicht noch nicht sichtbar waren.

Axel Heil: Auch deshalb haben wir die neue Publikation des Atlas, den Folio-Band mit den »originalen Reproduktionen«, den wir letztes Jahr produziert haben, so groß gemacht. Nach Warburg steckt nicht der Teufel, sondern der liebe Gott im Detail. Je tiefer wir eingestiegen sind, desto besser haben wir verstanden, wieso Warburg die Tafeln so und nicht anders arrangiert hat.

Wie sind Sie dann auf die Idee gekommen, im Warburg-Archiv in London nachzuschauen?
Axel Heil: Die Warburg-Bibliothek ist ein Schatzhaus. Kurz gesagt, wir mussten einige Lücken schließen. Und sind zwischen den über 400.000 Fotos der Photographic Collection immer wieder auf Originalmaterial gestoßen, mit dem Warburg damals auf den Stellwänden tatsächlich gearbeitet hat. Teilweise sind die Fotos noch auf den alten Kartons aufgezogen oder in Passepartouts mit runden Ecken gesteckt. Wir haben dann zunächst 2016 für die Ausstellung im ZKM auf Einladung von dessen Direktor Peter Weibel zwei Tafeln mit diesen originalen Arbeitsmaterialien aus dem Londoner Archiv rekonstruiert. David Freedberg, der damalige Leiter des Warburg Institute, hat uns daraufhin carte blanche gegeben ebenso wie später, sehr großzügig, sein Nachfolger Bill Sherman. Beide hatten die Hoffnung, dass es uns aufgrund der Tatsache, dass wir die Bilder schon so gut kannten, vielleicht gelingen könnte, sie gezielt herausfischen.

Was genau ist der Warburgsche Bilderatlas?
Roberto Ohrt: Der Atlas ist eine ganz konkrete Analyse der Renaissance, und zwar der Geschichte ihrer Durchsetzung. Warburg geht der Frage nach, wie es dazu kommt, dass bestimmte Bildformulierungen aus der Antike in der Renaissance wieder aufgegriffen werden und sich durchsetzen. Und das ist eine Konfliktgeschichte. Die Wiederkehr der Antike in der Renaissance ist ja alles andere als selbstverständlich. Sie stieß auf eine christliche Welt, mit der sie eigentlich nicht vereinbar war.

Woran lag es konkret, dass diese neuen Auffassungen zugelassen wurden?
Roberto Ohrt: Die Lebenswirklichkeit hatte sich tatsächlich verändert. Das geht etwa aus Savonarolas Hetzpredigten gegen sittenloses Verhalten und allzu leichte Bekleidung der Florentiner Bürgertöchter hervor, die tatsächlich wie eine Beschwörung der bewegten antiken Nymphe klingen, der Figur, die für Warburg so wichtig war.

Indem man diese bewegte und bewegende Bildfigur in den christlichen Bilderkanon integriert hat, hat man sozusagen ihre unkontrollierte Wirkung gebannt?
Roberto Ohrt:
Die büßende, bewegte, hoch emotionale Maria Magdalena war die Antwort auf die Nymphe.

Wie geht Warburg vor? Gibt es eine zentrale Argumentationslinie in dem Bilderatlas?

Roberto Ohrt:
Es gibt mehrere Stränge. Wichtig sind beispielsweise die großen aufrüttelnden Frauenfiguren wie etwa die antike Nymphe und die Schicksalsgöttin Fortuna oder die biblischen Gestalten Judith und Salome. All diese Frauenfiguren sind ambivalent und deshalb auch offen für kontroverse, ja sogar gegensätzliche inhaltliche Besetzungen.

Axel Heil:
Warburg denkt das Ganze als bewegliches Gefüge. Er untersucht die Wanderbewegungen
dieser Zuschreibungen: Was passiert dabei mit den Geschichten, die den Bildern zugeschrieben werden? Wie verändern sie sich? Wer sieht eigentlich was im Bild? Er spricht von »Bilderfahrzeugen«, durch die dieser Austausch stattfindet.

Was hat es mit den »Bilderfahrzeugen« auf sich, die Warburg erwähnt?
Roberto Ohrt: Damit meint er auch die mobilen Träger der Bilder wie Druckgraphik, vor allem aber die großen, beeindruckenden Bilderteppiche, die Tapisserien.

Axel Heil: Gleichzeitig ist der Bilderatlas auch ein Instrument, mit dem man viele Bilder besser lesen kann, ein Erkenntnisinstrument, das Aufschluss darüber gibt, wie Kontexte Bilder bestimmen können.

Roberto Ohrt: Und er ist auch ein Hilfsmittel. Man kann sich zu den Tafeln den vortragenden Warburg vorstellen. Die Tafeln standen im Vortragssaal der Kulturwissenschaftlichen Bibliothek Warburg in der Heilwigstrasse vor den Büchern, die das ganze umfassende Bezugssystem enthalten, das sich in den Tafeln verdichtet. Diese Bücher hat Warburg gesammelt, um Bilder zu erklären. Und die Bilder, die er dazu benutzt, sind auf den Tafeln so angeordnet, dass sie ihm auch als Gedächtnisstütze dienen. Sie sind mnemotechnisch strukturiert.

Also eine Art »Mindmap«?
Axel Heil: Der Ort des Bildes auf der Tafel ist so gewählt, dass sich von hier aus die verschiedenen Ebenen gleichsam »wegspinnen« lassen: die Geschichte, die das Bild erzählt, die Geschichte des Künstlers, der das Bild gefertigt hat, die Geschichte der Bezüge zu den anderen Bildern, die ihrerseits jeweils ähnlich komplex sind. Je mehr man über jedes einzelne Teil weiß, desto klarer ist seine Funktion im Ganzen. Es gibt in den Tafeln relativ klare Strukturen. Einige sind vergleichsweise einfach in polaren Gegenüberstellungen aufgebaut wie die Tafeln 47 oder 48, andere wiederum eher in Ovalen oder Kreisformen. Dritte wiederum entfalten ihre Argumentation im Dreieck.

Roberto Ohrt: Zur Zeit Warburgs war der lineare Diavortrag gang und gäbe. Das hat ihm offenbar nicht genügt, um die Vielfalt der Bezüge und ihre Dynamiken darzustellen. Er nennt seine Methode »mehrdimensional« und »polyphon«.

Das klingt ganz so, als könnte man mit heutigen digitalen Möglichkeiten diese komplexen Bezugsgeflechte besser abbilden als Warburg dies mit den analogen Papierfotos machen konnte. Wieso haben Sie keine digitale Version des Atlas entwickelt?
Axel Heil: Noch nicht. Und auch weil wir dann bereits am Anfang das ungeheuer dichte Bezugsgeflecht als Ausgangspunkt zur Strukturierung hätten kennen müssen. Wir hätten es bereits verstanden haben müssen, um es erkunden zu können, was in dieser Reihenfolge nicht funktioniert. Google Bildersuche etwa setzt ja auch voraus, dass ich weiß, wonach ich suche. Sonst führt sie mich nur auf ganz bestimmte, viel nachgefragte Aspekte. Womöglich komme ich auf ein eBay-Angebot, aber niemals auf komplexe Bezugssysteme von Bildern, schon gar nicht auf solche, die Warburg mit seinen Tafeln aufzeigen wollte.

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Veronika Schöne ist Kunsthistorikerin, Autorin und Dozentin. Sie schreibt Texte und macht Führungen, Seminare und Reisen zur Kunst.

Die Ausstellung ABY WARBURG: BILDERATLAS MNEMOSYNE. DAS ORIGINAL ist bis 31. Oktober 2021 in der Sammlung Falckenberg zu sehen.


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