FOTO: GERTRUD BING IN ROM, 1929. COURTESY THE WARBURG INSTITUTE LONDON

Herr Kollege Bingio

Aby Warburg gilt als Schöpfer des Bilderatlas Mnemosyne, doch das Projekt ist echtes Teamwork. Vor allem Frauen unterstützen Warburg bei der Umsetzung. Seine engste Vertraute: die Philosophin Gertrud Bing. VON GUNTHILD KUPITZ

20. Oktober 2021

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Es ist ein etwas skurriles Paar, das sich im Oktober 1928 in Bologna trifft. Neun Monate lang werden der kleine korpulente 62jährige Kunsthistoriker Aby Warburg und seine Assistentin, die 36jährige promovierte Philosophin Gertrud Bing, mit Zug und Auto durch Italien reisen, werden Bologna, Rimini und Rom besuchen, Capri, Florenz und Verona. Immer dabei: ein Tagebuch, in das beide Bemerkenswertes (»Tizian! Breughel! Die Diana von Ephesos!«) wie Banales (»migränig«) eintragen.

Warburg hatte es zwei Jahre zuvor eingeführt, nachdem die von ihm gegründete »Kulturwissenschaftliche Bibliothek Warburg«, kurz K.B.W., aus seinem Privathaus in der Hamburger Heilwigstrasse 114 in den daneben liegenden Neubau umgezogen war. Das Tagebuch begleitet die beiden auch auf ihrer Reise durch die italienische Kunstgeschichte. Erklärtes Ziel: unter anderem Warburgs großes Buchprojekt voranzubringen, den »Bilderatlas Mnemosyne«.

Im August 1924 hatte Warburg angefangen, mit Hilfe von Reproduktionen, Postkarten und Briefmarken sowie Werbeanzeigen und Fotografien das Weiterleben der Antike in der europäischen Kultur aufzuzeigen. Damals war der ebenso geniale wie psychisch labile Warburg nach sechsjährigem Aufenthalt in verschiedenen Sanatorien in seine Heimatstadt zurückgekehrt – mit dem Wissen, unheilbar schizoid zu sein. Anderthalb Jahre später beginnt Warburg sich intensiver mit seinem Mnemosyne-Projekt zu beschäftigen.

Foto: Gertrud Bing und Aby Warburg am Dom von Orvieto, 1929. © The Warburg Institute London

Nach einer ersten kurzen Exkursion nach Italien im Jahr 1927 folgte nun der lange Forschungsaufenthalt mit der Reise- und Denkgefährtin« Gertrud Bing, die er gelegentlich auch »College Bing«, Bingia, Bingius, Bingio oder »Fräulein Dr. Bing« nennt. Warburg schätzt ihren Intellekt und »das unbedingte Vertrauen und den liebevollen Respekt, den mir Bingia einflösst«. Am 17. Mai 1929 notiert er im Tagebuch: »Gertrud Bing und ich funktionieren … wie eine zwiefach gegabelte Wünschelrute.«

Warburgs Assistent, der Wiener Kunsthistoriker Fritz Saxl, hatte Bing im Dezember 1921 für die Katalogisierung der privaten Bibliothek angestellt. Zuvor hatte die 29-Jährige ihre Dissertation bei dem Philosophen Ernst Cassirer mit einer Arbeit über den »Begriff der Notwendigkeit bei Lessing« abgeschlossen. Cassirer war von Bings Klarheit der Gedankenführung und ihrer Urteilsfähigkeit beeindruckt, was vermutlich auch der Grund war, warum er sie an die K.B.W. empfahl. Der Ort wird ihr zur Heimat, die Menschen dort zu ihrer Familie, so Claudia Wedepohl, Archivleiterin am Warburg Institute in London.

Bing hatte nicht nur früh ihre Eltern verloren und war ohne Geschwister aufgewachsen – die Berufstätigkeit entsprach auch ihrem Selbstverständnis: »… eine arbeitende Frau … – das ist einer der schönsten Menschentypen, den ich kenne«, notierte sie im Bibliothekstagebuch. Außerdem wurden sie und Saxl ein Paar. Der war zwar verheiratet und ließ sich auch nie scheiden, doch seine Frau und die beiden Kinder lebten die meiste Zeit getrennt von ihm. Als Warburg das Verhältnis nach seiner Rückkehr bemerkte, verbot er es und versuchte dafür zu sorgen, dass die beiden nicht gleichzeitig in Hamburg waren. Die Beziehung hielt dennoch.

Zwischen den Italienreisen von Warburg und Bing nimmt der Bilderatlas immer mehr Gestalt an. Auf einem mit schwarzem Tuch bespannten Holzrahmen werden die Illustrationen und Reproduktionen befestigt; auf diese Weise lassen sie sich schnell und unaufwändig immer wieder neu sortieren. »Die Auswahl der Bilder, die Anzahl der Tafeln und die Anordnung der Bilder ändert sich ständig«, sagt Claudia Wedepohl. Die ersten Tafeln werden im Mai 1928 fotografiert, die nächsten zwischen Ende August und Mitte September. Die Aufnahmen sollen Warburg helfen, trotz reisebedingter Abwesenheiten, weiter an dem Projekt zu arbeiten. Auch Warburgs Frau Mary, eine Malerin und Bildhauerin, unterstützt ihn bereitwillig, mit »Handlangerdiensten« und als »Gestell-Ameise« beim Hin- und Herschieben der Tafeln.

Die zwei hatten sich mit Anfang 20 in Florenz kennengelernt, wohin Mary mit ihrem Vater Adolph Ferdinand Hertz gereist war. Für die jungen Leute beginnt eine »nachdrückliche Zeit der wechselseitigen Inspiration und intensiven (Brief-)Austauschs in Sachen Bildung, Kunst und Geschichte«, wie Marys Biographin Bärbel Hedinger schreibt: Sie macht ihn mit der Kunst der Gegenwart in Hamburg bekannt, er erläutert ihr die Kunst der Renaissance. 1987 heiraten der jüdische Bankierssohn und die protestantische Senatorentochter. Nach der Geburt ihrer drei Kinder kommt Mary allerdings nur noch selten zu mehr als gelegentlichen Porträtzeichnungen des Nachwuchses. Als sie 1915 ihren Mann bittet, sich wieder mehr ihrer künstlerischen Arbeit widmen zu dürfen, wirft der ihr in einem zornigen Brief vor, die Erziehung der Kinder zu vernachlässigen.

Briefe sind überhaupt ein wichtiges Medium für das Paar. Ist Aby auf Reisen, schreibt ihm Mary täglich, so Wedepohl. Doch Marys Rolle als intellektuelle wie auch psychologisch unterstützende Gesprächspartnerin wird Gertrud Bing von 1924 an zu großen Teilen übernehmen. Immerhin: Mary Warburg wird ihr Atelier nie aufgeben, zuletzt nutzt sie das Dachgeschoss im Neubau der K.B.W. dafür. Eine Auswahl ihrer Werke – Pastelle, Zeichnungen, Plastiken – zeigt das Barlach-Haus in Hamburg vom 13. Februar bis 12. Juni 2022.

Foto: Gertrud Bing, Aby Warburg und Franz Alber im Palace Hotel in Rom, 1929 © The Warburg Institute London

Nach Warburgs Tod im Oktober 1929 entsteht die letzte und bekannteste Serie des Bilderatlas. Die Fotografien dokumentieren seine letzte Fassung: 63 Tafeln mit 971 Objekten. Saxl und Bing wollen sie nutzen, um eine posthume Ausgabe der Mnemosyne vorzubereiten, so die Archivarin Claudia Wedepohl. Bing ist begeistert vom aktuellen Stand des Projekts. Sie schreibt an die Archäologin Margarete Gütschow: »Das Wunderbare ist nun, dass während bisher der Atlas doch immer noch ein grandioses Chaos gewesen war, aus dem zwar bald hier bald dort ein Stück Kosmos hervorleuchtete, aus dem aber immerhin die zu Grunde liegende Ordnung nur für den Wissenden zu ahnen war, in den letzten Wochen eine Fassung der Bildtafeln entstanden ist, die Saxl, als er sie, von England zurückkehrend, zum ersten Mal sah, sofort als das großartigste bezeichnete, was Warburg je gemachte habe.«

Bing selbst hat erheblichen Anteil am Bilderatlas, meint Wedepohl, Saxl sei für Warburg vor allem als kritischer Geist ein wertvoller Gesprächspartner gewesen. Einige Jahre später wird das Projekt dem jungen britischen Kunsthistoriker Ernst Gombrich übertragen, doch der hält den Atlas für unpublizierbar – Mnemosyne bleibt unvollendet.

Zwei Tage bevor Warburg stirbt, erlebt New York am Black Friday einen Börsencrash. Er verursacht auch bei der Warburg-Bank in Hamburg hohe Verluste – was zur Folge hat, dass das Budget für die Bibliothek und alles, was mit ihr zusammenhängt, drastisch reduziert wird. So kommt es, dass aus wirtschaftlichen Gründen eine Idee wieder aufgegriffen wird, die Aby Warburg im gleichen Jahr wenngleich auch aus wissenschaftlichen Gründen erwogen hat: den Umzug der Bibliothek.

Foto: Gertrud Bing, 1922 © The Warburg Institute London

Es werden verschiedenen Optionen erwogen, unter anderem eine Schenkung nach Israel, was jedoch bedeutet hätte, dass die Bibliothek ihre Eigenständigkeit aufgegeben hätte. Tatsächlich gelingt erst im Dezember 1933 die Verschiffung der K.B.W mit ihren 60 000 Büchern wie auch den Materialien zum Bilderatlas nach Großbritannien – und »es besteht kein Zweifel daran, dass die Überführung zum letztmöglichen Zeitpunkt erfolgte und eine Rettung vor der Zerstörung durch die Nationalsozialisten bedeutete«, urteilt der Schweizer Historiker Lucas Burkart. Er schreibt: »Nur zwei Wochen, nachdem die Bibliothek auf zwei Schiffe verladen, in Hamburg abgelegt hatte, wurde die Zuständigkeit für einen vergleichbaren Vorgang von den kommunalen Verwaltungen an das Propagandaministerium Joseph Goebbels‘ in Berlin übertragen.« In London steht nicht nur eine gesicherte Finanzierung der Bibliothek bereit, sondern mit dem Academic Assistance Council auch eine Behörde, die jüdische Mitarbeitenden mit Stipendien unterstützt.

Am neuen Standort der K.B.W., die künftig The Warburg Institute heißt, übernimmt Saxl den Posten des Direktors, Bing den der Stellvertreterin. Erst nach seinem Tod und dem seines Nachfolgers, dem niederländischen Archäologen Henri Frankfort, rückt Bing selbst an die erste Stelle und erhält auch den damit verbundenen Professorinnntitel der Londoner Universität.

Als Gertrud Bing 1964 mit 72 Jahren stirbt, hinterlässt sie kein größeres wissenschaftliches Werk. Die von ihr geplante Warburg-Biographie bleibt ebenso unvollendet wie Warburgs Bilderatlas Mnemosyne. Dennoch: Ihre Bedeutung für die Bibliothek wie für den Bilderatlas sind nicht zu überschätzen. Sie war, wie es der Kunsthistoriker Carl Georg Heise und Mitglied im Warburgkreis einmal ausdrückte, die »selbstlose inspirierende Anima erst ihres Meisters, dann vieler jüngerer Weggenossen«.

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Gunthild Kupitz ist Kunsthistorikerin und arbeitet als freie Journalistin und Textchefin in Hamburg.

Die Ausstellung ABY WARBURG: BILDERATLAS MNEMOSYNE. DAS ORIGINAL ist bis 31. Oktober 2021 in der Sammlung Falckenberg zu sehen.


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