FOTO: HENNING ROGGE

Dix und die Alten Meister

Gemälde von Otto Dix werden oft als "altmeisterlich" bezeichnet. Aber auch zeitgenössische Künstler*innen beziehen sich immer wieder auf die großen Vorbilder der Kunstgeschichte. Was fasziniert uns an ihnen? VON BASIL BLÖSCHE

14. Februar 2024

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Wer in diesen Tagen die Halle für aktuelle Kunst der Deichtorhallen Hamburg besucht, dem weht ein Hauch der Kunstgeschichte entgegen. In der Ausstellung DIX UND DIE GEGENWART zeigt Kuratorin Ina Jessen ein Panoptikum der zeitgenössischen Kunst, das mit Werken von Dix selbst kontextualisiert wird. So lassen sich Entwicklungslinien von den zwanziger Jahren bis heute zeichnen, die jedoch oft viel weiter in die Kunstgeschichte zurückreichen.

Die Gemälde von Otto Dix werden des Öfteren als "altmeisterlich" bezeichnet. Was bedeutet das genau und schlägt sich dies auch in der zeitgenössischen Kunst nieder? Die Bezeichnung "Alte Meister" beschreibt gemeinhin Künstler*innen des 14. bis 18. Jahrhunderts. Sie bilden das Herzstück der westeuropäischen Kunstgeschichte. Ihre Gemälde sind aber keinesfalls verstaubte Relikte. Die Alten Meister haben nicht nur die großen Fragen der Menschheit in ihren Werken aufgegriffen, sondern schaffen es auch, uns im Hier und Jetzt tief zu berühren.

Leonardo da Vinci (zugeschrieben), Salvator mundi, um 1500, Öl auf Holz, 66 × 46 cm. Creative Commons

Ob durch ihre akribische Maltechnik, die realistische Darstellung von Emotionen oder allegorischen Szenen – ihre Kunst ist ein lebendiges Zeugnis vergangener Jahrhunderte, die uns bis heute fasziniert. So war die Vermeer-Ausstellung im Rijksmuseum Amsterdam mit rund 650.000 Besucher*innen ein Highlight im vergangenen Kunstjahr.

Die Beliebtheit der Alten Meister spiegelt sich auch im Kunstmarkt: Das teuerste Gemälde aller Zeiten ist Leonardo da Vincis Salvator Mundi, das 2017 versteigert wurde. Interessanterweise ist es nicht in einer Alte-Meister-Auktion gelandet, sondern im "Post-War and Contemporary Art Evening Sale" von Christie's. Das Auktionshaus Sotheby’s versteigert ebenfalls historische Kunst in zeitgenössischen Auktionen und Galerien wie David Zwirner oder Sprüth Magers verbinden Vergangenheit und Gegenwart in ihren Ausstellungen.

Der Ritt durch die Kunstgeschichte ist übrigens keine neue Idee – schon immer war der Blick zurück ein wichtiger Teil des kreativen Schaffens. Aber wo besteht die Verbindung zwischen Otto Dix und den Alten Meistern?

Albrecht Dürer, Die Madonna mit dem Zeisig, 1506. Staatliche Museen zu Berlin, Gemäldegalerie / Christoph Schmidt Public Domain Mark 1.0

Während seines Studiums an der Kunstgewerbeschule Dresden von 1910 bis 1914 nimmt Dix’ Interesse an den Alten Meistern stark zu, er geht sogar auf Studienreisen nach Österreich und Italien. Nach eigenen Aussagen des Künstlers sind bereits seine Selbstporträts von 1912 und 1913 von Lucas Cranach d. Ä. und den Werken der Frührenaissance beeinflusst. Die intensivste Beschäftigung mit der Kunstgeschichte findet in den Jahren 1933 bis 1945 statt, ab 1937 malt Dix neben Landschaften und Porträts zudem vermehrt christliche Motive.

Bereits 1921 taucht Otto Dix tief in die Maltechniken der Renaissance ein. Seine Gemälde entstehen nicht einfach so, es gehen umfangreiche Vorarbeit voraus. Mit Silberstift oder Rötel zeichnet er ausgiebige Studien auf speziell vorbehandeltem Papier, die Lichtpunkte setzt er mit Weisshöhungen. Daraus erstellt Dix einen sogenannten Karton, eine Vorzeichnung in der gleichen Grösse wie das spätere Gemälde, und überträgt die Komposition mit Kohle oder Kreide auf den Bildträger. Ein berühmtes historisches Beispiel für diese Technik ist Leonardo da Vincis The Burlington House Cartoon, das Maria mit dem Jesuskind, die heilige Anna und Johannes den Täufer zeigt.

Leonardo da Vinci, Virgin and Child with Ss Anne and John the Baptist, 1500. Public Domain

Dix bevorzugt robuste Materialien wie Holzplatten, die manchmal mit Leinwand bespannt, aber immer mit einem glatten Kreide- oder Gipsgrund überzogen werden. Sein feiner und lasierender Malstil wird vielfach mit Albrecht Dürer oder Albrecht Altdorfer in Verbindung gebracht, Dix setzt aber auch moderne Materialien gezielt ein, um die vom ihm gewünschte Bildwirkung zu erzielen.

Doch wie zeigt sich das Altmeisterliche konkret in den Gemälden von Otto Dix und nachfolgenden Generationen von Kunstschaffenden? Im Gemälde Die Eltern des Künstlers II von 1924 malt Dix in der oberen rechten Ecke einen an die Wand gepinnten Papierzettel, der verrät, dass die Leute auf dem Bild seine Eltern sind. Die daneben gesetzte Signatur ist ein typografisch gestaltetes Monogramm und direkt aus der Kunstgeschichte übernommen.

Das sogenannte cartellino ist ein Bildelement aus der italienischen Renaissance und zum ersten Mal in der ersten Hälfte des 15. Jahrhunderts auf einem Bild zu sehen. Der Text auf dem Zettel kann nicht nur die Signatur und das Datum, sondern auch philosophische oder religiöse Erläuterungen zum Bildthema enthalten. Hier hat sich Dix von Größen wie Filippo Lippi, Giovanni Bellini oder Albrecht Dürer inspirieren lassen. Das Monogramm, das er als Signatur nutzt, bezieht sich auf Lucas Cranach d. J., der ebenfalls eine Schlange verwendete. Dix verändert sein Monogramm im Laufe der Zeit, und in einem erstmalig von Ina Jessen publizierten Brief hat er die verschiedenen Versionen mit Datierungen festgehalten.

In seinem beeindruckenden Selbstporträt mit Palette vor rotem Vorhang von 1942 öffnet sich hinter der Stoffbahn eine Unwetterlandschaft, die an die nordalpine Malerei des 16. Jahrhunderts erinnert. Das Bild entstand während des Zweiten Weltkrieges, als Dix in Hemmenhofen am Bodensee in innerer Emigration weilte. Die düstere Landschaft im Hintergrund des Porträts spiegelt die Stimmung des Künstlers in dieser Zeit und die Zerstörung, die von den Nationalsozialisten über Europa gebracht wurde.

Dem konservativen Kunstverständnis der Nazis, das immer deren Blut-und-Boden-Ideologie zu entsprechen hatte und dafür auch vor einer Verzerrung der Kunstgeschichte nicht Halt machte, setzte Dix eine zutiefst menschliche Malerei entgegen. Seine großen Kriegsbilder aus der Weimarer Republik zeigen einen sehr realistischen und brutalen Blick auf den Ersten Weltkrieg – das gänzliche Gegenteil der Militär- und Kriegsästhetik der NSDAP.

Aber nicht alle seine Gemälde sind so offen kritisch. Porträts wie das Bildnis Frau Rosa Eberl von 1940 zeigen eine verletzliche und vom Leben gezeichnete Person in altmeisterlicher Gestaltung ohne jede Heroisierung. Die Auseinandersetzung mit der Kunstgeschichte ist eine gänzlich andere. So entsteht bei Dix eine Malerei, die auch Schwäche und Tragik nicht ausspart.

Die Auseinandersetzung mit den Alten Meistern hat Otto Dix' künstlerisches Werk auf faszinierende Weise beflügelt. Diese Art der kunsthistorischen Aneignung hat nicht nur ihn, sondern viele andere Künstler*innen inspiriert, und gewisse Bildelemente lassen sich über Jahrhunderte hinweg verfolgen. Eduard Manet hat sich für sein Meisterwerk Le Déjeuner sur l’herbe von 1863 von italienischen Meistern inspirieren lassen. Er übernahm die Bildidee von Tizians Le Concert champêtre (1500-25) aus dem Louvre und integrierte eine Figurengruppe aus dem Kupferstich Das Urteil des Paris (um 1515) von Marcantonio Raimondi nach einem Werk von Raffael.

Édouard Manet, Le Déjeuner sur lherbe, Öl auf Leinwand, 207 × 2651 cm. Public Domain

Jeff Wall wiederum greift in seiner Fotoarbeit Tattoos and Shadows von 2000 das Frühstück im Grünen auf. Manet hat die Götterfiguren durch bürgerliche Personen des 19. Jahrhunderts ersetzt. Wall demgegenüber verändert die Komposition, schafft Distanz zu den Alten Meistern und ersetzt Manets bürgerlichen Figuren durch proletarisch anmutende Gestalten. Wall überträgt damit die Bildidee und Gestaltungsform Manet’s ins 21. Jahrhundert und schafft eine zeitgenössische Milieudarstellung.

Simone Haack schließt an Otto Dix an und setzt die Bezüge gekonnt in ihrer Porträtmalerei um. Ihr Ölgemälde Lady in Furs (Nicole) von 2017 zeigt eine Frau, die über die Schulter blickt. Mit ihrem Pelzmantel, der feinen und zerbrechlich wirkenden Physiognomie und der dunklen Hintergrundfarbe weckt das Bild unweigerlich Erinnerungen an Dix’ Bildnis Frau Rosa Eberl und deren Verbindungen zu den altmeisterlichen Darstellungsformen. Haack setzt also nicht nur auf zeitlose Eleganz, sondern lässt auch die inspirierende Kraft der Alten Meister in ihr Werk einfließen.

Simone Haack, Lady in Furs (Nicole), 2017 © Simone Haack, VG Bild-Kunst, Bonn 2023

Der amerikanische Maler Kehinde Wiley verfolgt einen anderen Ansatz. Durch seine intensive Beschäftigung mit der Kunstgeschichte stößt er auf wiederkehrende Elemente, die Macht repräsentieren und oft in kolonialistischen Kontexten Verwendung fanden. Wiley nennt dieses Instrumentarium treffend das "Vokabular der Macht" und durchleuchtet es in seinen fotorealistischen Gemälden, die von bunt gemusterten Hintergründen dominiert werden.

In einer Serie von Porträts afrikanischer Machthaber*innen geht es ihm weniger um Kritik an politischen Positionen, sondern vielmehr um die Wirkmächtigkeit von Gesten, Haltungen und Attributen. Seine Gemälde zeigen konsequent People of Colour, und damit erobert Wiley einen Raum zurück, der über Jahrhunderte hinweg mit weißen Männern assoziiert war – eine kraftvolle Geste der Emanzipation für eine lange unterdrückte Gesellschaftsschicht. Die Pinselstriche von Wiley sind mehr als nur Farbe auf Leinwand; sie sind ein künstlerischer Akt der Befreiung und Neugestaltung historischer Narrative.

Die Verbindungen zur Malerei der Alten Meister sind in der heutigen Kunst so facettenreich wie das zeitgenössische Schaffen selbst. Die Bezüge erstrecken sich von der Malweise und den verwendeten Materialien bis hin zu formalen oder inhaltlichen Anleihen sowie der Aneignung von Kompositionsformen zur Darstellung marginalisierter Gesellschaftsgruppen. Die zeitgenössischen Künstler*innen huldigen und kritisieren die Alten Meister in ihren Werken – und manchmal sogar gleichzeitig.

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Basil Blösche ist Kunsthistoriker und lebt in Zürich. Er arbeitet im antiquarischen Buchhandel sowie als Verwalter von künstlerischen Nachlässen und Kunstsammlungen.

Die Ausstellung DIX UND DIE GEGENWART ist noch bis zum 1. April 2024 in den Deichtorhallen Hamburg zu sehen.


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