FOTO: HENNING ROGGE

Erinnern, um vergessen
zu können

Familienbilder helfen uns dabei, unsere eigene Geschichte zu verstehen. In der Ausstellung CURRENCY: PHOTOGRAPHY BEYOND CAPTURE untersuchen Künstler*innen, wo die Grenze zwischen Wahrheit und Erinnerung verläuft. VON DAMIAN ZIMMERMANN

9. August 2022

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Die Fotografie ist seit jeher ein Medium der Erinnerung. Doch wie das menschliche Gedächtnis ist sie nicht perfekt und voller Fehler – sie kann uns betrügen, täuschen und in die Irre führen. Hin und wieder manipuliert sie uns auch, im öffentlichen Leben genauso wie im privaten. Dabei sind Erinnerungen meist genauso selektiv wie unsere individuellen Wahrnehmungen. Für den Soziologen und Philosophen Maurice Halbwachs werden sie stärker von der Gegenwart bestimmt als von der Vergangenheit.

In der Ausstellung CURRENCY: PHOTOGRAPHY BEYOND CAPTURE in den Deichtorhallen Hamburg hinterfragen und überprüfen mit Raed Yassin, Lebohang Kganye, Leslie Hewitt und Mame-Diarra Niang gleich vier Künstler*innen das Wahrheitsversprechen der Fotografie. Sie begeben sich auf die Suche nach der Bedeutung, aber auch nach den Lücken des Mediums und wie diese das individuelle wie das kollektive Gedächtnis prägen.

Interessanterweise spielen dabei aber nicht Nachrichtenbilder oder Werbefotografien, sondern ausgerechnet private Fotos, etwa aus dem Familienalbum, eine wichtige Rolle. Diese Aufnahmen sind schließlich essenzielle und oft auch die einzigen fotografischen Dokumente der eigenen Geschichte und Herkunft. Sie prägen unsere Selbstwahrnehmung und auch unsere Identität.

Doch was geschieht, wenn diese Fotografien verloren gehen – sei es durch Naturkatastrophen wie die Flut im Ahrtal, den Tsunami in Japan oder in einem der vielen Kriege weltweit?

So erging es Raed Yassin. Der 43-Jährige hat im libanesischen Bürgerkrieg einen Großteil seiner Familienfotos verloren. Um diese schmerzhafte Lücke zu füllen, kaufte und sammelte er Familienfotos anderer Menschen, vor allem aus dem arabischen Raum. In dieser Region kam es in den letzten Jahrzehnten zu vielen Vertreibungen und Veränderungen, und gleichzeitig ähneln sich die Familienalben selbst völlig fremder Familien untereinander so, wie sie es auch in Mitteleuropa tun: Die Menschen sind zwar unterschiedlich, aber interessanterweise scheinen sie alle ähnliche Erfahrungen zu machen – zumindest dann, wenn man den selektiven Bildern in den Fotoalben trauen kann, die meist voll sind mit Urlaubsbildern, Hochzeiten, Taufen und anderen Familienfesten.

Für Yassin bedeuten die Bilder dieser Menschen eine Art Familienersatz, der sich für ihn eine Zeit lang kostbar und heilend anfühlte. Doch als immer mehr Fotografien von immer mehr Menschen zusammenkamen, veränderte sich die Wirkung der Bilder und er hat sie zunehmend als Belastung empfunden – schließlich trägt jede Fotografie auch das individuelle Schicksal eines Menschen und seiner Familien in sich.

Nachdem die Menschen verschwunden waren – durch Tod oder Vertreibung – begann Yassin damit, auch ihre Abbilder aufzulösen. Er besprühte die Fotografien mit Farbe, so dass sie auf den ersten Blick komplett überdeckt wurden. Erst bei genauerer Betrachtung erkennt man noch etwas – die Farbe (hier eine Metapher für die verstrichene Zeit) hat nicht alles verdeckt und so erkennen wir manchmal noch Silhouetten und Schemen, manchmal aber auch Konturen von Gesichtern.

Es sind die Gespenster von Kindern und Erwachsenen, die uns daran erinnern, dass sie einmal existiert haben. Damit gelingt Yassin auf gewisse Weise die Quadratur des Kreises: Er visualisiert etwas, dass es nicht mehr gibt.

Raed Yassin, The Company of Silver Spectres (Die Gesellschaft der silbernen Geister), 2021. Courtesy of the artist

Auch die südafrikanische Künstlerin Lebohang Kganye arbeitet üblicherweise mit alten Familienfotos, die nicht unbedingt ihre eigene Familie zeigen. Kganye vermischt die Fotos mit Erzählungen und weitergegebenen Erinnerungen zu lebensgroßen Skulpturen und raumgreifenden Installationen. Die Personen werden aus dem Kontext der Fotografien entrissen, stark vergrößert auf Platten aufgezogen und so arrangiert, dass sie – einem Bühnenstück gleichend – miteinander interagieren.

Es sind dreidimensionale Collagen alltäglicher Szenen des Landlebens, die sich mit jedem Schritt der Betrachtenden verändern und neue Perspektiven ermöglichen. Wie die Bilder in einem Pop-up-Buch für Kinder oder Dioramen in einem Naturkundemuseum, die für exemplarische und meist stark verdichtete Imitation von Wirklichkeit stehen und ebenfalls ähnlich einer Fotografie funktionieren, tragen sie auch etwas Spielerisches in sich.

Zusätzlich drängt sich eine weitere Ebene und Interpretationsmöglichkeit auf, nämlich die der Familienaufstellung. Welche Figuren und Charaktere positioniert Lebohang Kganye, die sich selbst auch als Geschichtenerzählerin bezeichnet, wo und in welchem Verhältnis stehen diese zu den anderen? Wie verändert sich der Blick der Betrachtenden beim Gang um die insgesamt vier Installationen, die in der gesamten Ausstellungsfläche verteilt an verschiedenen Positionen aufgestellt wurden?

Lebohang Kganye, Mohlokomedi wa Tora, 2018. Installationsansicht in der Ausstellung CURRENCY: PHOTOGRAPHY BEYOND CAPTURE in den Deichtorhallen Hamburg. Foto: Henning Rogge

In diesem Punkt unterscheidet sich die Präsentation in den Deichtorhallen Hamburg von der ursprünglichen Ausstellung der Arbeit, die Kganye 2018 für das Pretoria Art Museum in Südafrika entwickelt hatte. Damals standen die vier Dioramen um eine Lampe herum, die unterschiedliche Licht- und Schatteneffekte erzeugte. Damit bezog sich die 1990 geborene Künstlerin auf die ursprüngliche Bedeutung ihres Familienamens Kganye, der abgeleitet aus der Zulu- und Sotho-Sprache so viel wie »Licht« und »leuchten« bedeutet.

Und auch der Titel der Arbeit Mohlokomedi wa Tora greift diese Bezüge auf: übersetzt bedeutet er »Leuchtturmwärter«. Es geht also um das Er- und Ausleuchten der eigenen komplexen Familiengeschichte Kganyes selbst und natürlich auch um den fast schicksalhaften Zufall, dass die Künstlerin sich mit dem Medium Fotografie beschäftigt, das ohne Licht gar nicht denkbar wäre. Aber natürlich ist der Leuchtturm auch ein sehr ambivalentes Symbol: Einerseits dient er der Orientierung und andererseits darf man ihm nicht zu nahe kommen.

Wie gesellschaftliche und historische Ereignisse unterschiedlich gewichtet und entsprechend in den Vorder- oder Hintergrund der Erinnerung gestellt werden, beschäftigt die Amerikanerin Leslie Hewitt. Die Fotografie ist bei diesem Erinnerungsprozess niemals objektiv und kann nicht als wirklicher Beweis aufgeführt werden, sondern sie ist immer Teil und Ergebnis von Entscheidungsprozessen und bei ihrer Betrachtung spielt der Kontext und die mitgelieferte Information eine entscheidende Rolle.

Leslie Hewitt, Riffs on Real Time (7 of 10), 2012 - 2017. Courtesy the artist and Perrotin. Foto: Guillaume Ziccarelli.

In ihrer Arbeit Riffs on Real Time arbeitet die 45-Jährige in mehreren Schichten aus Fotografien und Trägermaterial: Ein hölzerner Fußboden bildet den privaten und persönlichen Hintergrund für einen auf ihm liegenden Zeitungsartikel, Magazin, Buch oder auch Landkarte – in jedem Fall handelt es sich um ein Druckerzeugnis, welches als Informationsquelle und Massenmedium dient. Auf diesem wiederum platziert Hewitt ein altes Familienfoto aus ihrem Archiv, das ein Teil dieser »öffentlichen« Geschichte mit ihrer eigenen »privaten« überlagert.

Thematisch bezieht sich die Afroamerikanerin dabei vor allem auf die schwarze Community und die Bürgerrechtsbewegung der 1960er-Jahre in den USA, an denen sich auch ihre Eltern beteiligten. In ihrer Arbeit bringt die Künstlerin scheinbar nicht zusammenhängende Ereignisse und Aktivitäten zusammen. Allerdings stellt Hewitt diese Assemblage nicht selbst aus, sondern nur eine Fotografie davon. Damit fügt sie der Infragestellung von Wahrheit und Erinnerung eine weitere Ebene hinzu: Auch dieses Foto ist nur ein Bild und somit nur eine von vielen Möglichkeiten der Wahrnehmung und der Gewichtung.

Dass Erinnerung und Vergessen die Menschheit nicht erst seit Erfindung der Fotografie faszinieren, zeigt die Arbeit der Französin Mame-Diarra Niang. Als Autodidaktin beschäftigt sie sich in ihrer Arbeit Léthé mit dem gleichnamigen Fluss aus der griechischen Mythologie: Die Seelen der Verstorbenen mussten aus ihm trinken und vergaßen daraufhin alles aus ihrem vorangegangenen Leben, damit sie wiedergeboren werden konnten. Für Niang steht dabei die Erinnerung der eigenen Identitätsfindung im Weg. Wer wären wir, wenn wir nicht täglich durch uns selbst und andere Personen an unser bisheriges Leben erinnert werden würden? »Ich stelle mir das Selbst als ein Territorium vor, das aus gut kuratierten Erinnerungen und Auslöschungen besteht. Wir müssen vergessen, was wir waren, um neu zu werden«, sagt die 40-Jährige.

Mame-Diarra Niang, Ce qui monte, 2021. Courtesy the artist and STEVENSON, Cape Town.

Die in der Ausstellung zu sehenden Fotografien sind während des Corona-Lockdowns 2021 entstanden und interpretieren das Genre des Porträts neu. Zwar sehen wir mehr oder weniger klassische Einzelporträts von Personen, diese sind allerdings so stark verschwommen, dass eine Identifizierung der Abgebildeten unmöglich gemacht wird. Wir erkennen (und erinnern uns bloß an) Schemen, Umrisse und Farbflächen. Selbst bei geliebten, aber bereits verstorbenen Personen fällt es uns mitunter schwer, sich an ihre Gesichter zu erinnern. Ab wann ist ein Porträt ein Porträt? Was glauben wir trotz der Unschärfe erkennen und interpretieren zu können? Das Geschlecht? Den Gemütszustand? Die Hautfarbe? Das Alter?

Inspiriert wurde Mame-Diarra Niang dabei auch von ihren eigenen Erfahrungen und ihrem Aufwachsen zwischen Frankreich, Senegal und der Elfenbeinküste einerseits und den fehlenden Geschichten ihrer Vorfahren andererseits: »Mein Vater hat mir nie meine Geschichte erzählt, unsere Geschichte, die Geschichte meiner Vorfahren. Es bedeutet, dass ich mich nicht vollständig erinnern kann. Ich kann mich nicht erinnern, wer ich war, bevor ich ich selbst geworden bin.« Wer sich nicht erinnern kann, der kann auch nicht vergessen.

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Damian Zimmermann (* 1976) lebt und arbeitet als Journalist, Kunstkritiker, Fotograf, Kurator und Festivalmacher in Köln.

Die Ausstellung CURRENCY: PHOTOGRAPHY BEYOND CAPTURE ist bis zum 18. September 2022 in der Halle für aktuelle Kunst zu sehen.


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