FOTO: HENNING ROGGE

Ich möchte Teil einer
Space-Mission sein

In Tom Sachs‘ »Space Program« können sich Besucher*innen einer sogenannten Indoktrination unterziehen. Wer sie durchläuft, gehört zum Team – und erfährt dabei so einiges über die Ambivalenz zwischen Teilhabe und Mitmachzwang VON ANNE WAAK

10. November 2021

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»Welcome to the Space Program!«. Am Eingang seiner Ausstellung grüßt der Künstler höchstpersönlich. Von einem Bildschirm aus schaut Tom Sachs den Besucher*innen in die Augen, mit ausgebreiteten Armen heißt er sie willkommen, hinter ihm seine Space Crew aus knapp einem Dutzend Mitarbeiter*innen.

Der US-amerikanische Bildhauer Tom Sachs ist regelrecht besessen von der NASA-Weltraummission. Geboren 1966 in Connecticut, verfolgte er als Dreijähriger die erste bemannte Mondlandung durch Apollo 11 auf einem großen Bildschirm im New Yorker Central Park mit. Damals fuhr etwas in den Jungen ein, das er heute »das Schreckgespenst der zukünftigen Möglichkeit, dass wir alle zu anderen Planeten reisen« nennt. Dieses Gespenst hat ihn bis zum heutigen Tag nicht mehr verlassen.

Die Ausstellung SPACE PROGRAM: RARE EARTHS (SELTENE ERDEN) in den Deichtorhallen Hamburg markiert bereits Sachs’ vierte Schau zum Thema Weltraumerkundung. Seit 2007 reisten er und sein Team mit dem künstlerischen Mittel der Bricolage bereits zum Mond, zum Mars und zum Jupitermond Europa. Nun ist 4-Vesta das Ziel der Mission, ein ovaler Asteroid, aus der Entstehungszeit des Sonnensystems. Sein hoher Anteil an Metall macht 4-Vesta interessant für den Menschen der Digitalmoderne, giert dieser doch nach den Seltenen Erden und Edelmetallen wie Gold, Platin und Palladium, die er in den derzeit schätzungsweise sechs Milliarden Smartphones auf der Welt verbaut – Tendenz weiterhin steigend.

Das Indoctrination Center in der Ausstellung TOM SACHS – SPACE PROGRAM (RARE EARTHS). Foto: Henning Rogge

Alles, was sie für diese extraterrestrischen Reisen benötigen, haben Sachs und sein Team – in Zusammenarbeit mit der US-amerikanischen Weltraumbehörde NASA – per Hand aus Sperrholz, Haushaltsmaterialien, Heißkleber, allerlei ausrangierten technischen Geräten, Schrauben und Schaumstoff minutiös und detailgetreu nachgebaut: Raumanzüge, ein Mission Control Center, eine Landefähre, komplett ausgestattet mit Werkzeugkoffer und Kaffeemaschine. Immer wieder zu sehen: USA-Flaggen.

Zur Ausstellung gehört auch ein sogenanntes Indoctrinations Center. Die Indoktrination dient als »Schlüsselritual, mit der du Teil der Space Mission werden kannst«, heißt es. Indoktrination, also die »Beeinflussung mit psychologischen Mitteln im Hinblick auf die Bildung einer bestimmten Einstellung« klingt ein wenig fehl am Platz – als habe man es hier mit einer religiösen Gemeinschaft oder einer Sekte zu tun. Aber wer würde nicht gern mal einen Ausflug ins All wagen. Also los.

Zunächst gilt es, am »Indoctrination Desk« vorstellig zu werden. Eine ernsthaft wirkende junge Mitarbeiterin in einer blauen Arbeitsjacke reicht ein Klemmbrett mit einem Bewerbungsformular für den Job des*der Astronaut*in über den Tisch. Wie aufregend, zeigt der Blick auf die Fragen doch, dass hier weder Wert auf einen Hochschulabschluss in einem naturwissenschaftlichen Fach noch Flugerfahrung oder ein Studium der Luft- und Raumfahrttechnik gelegt wird. Stattdessen werden Kenntnisse über die Gepflogenheiten im New Yorker Atelier von Tom Sachs abgefragt (die sich vorab durch instruktive Youtube-Videos lernen lassen), es geht um Ordnung, Präzision und Organisationsgabe. So weit, so nachvollziehbar, gelten in einer Werkstatt, in der Menschen an technischen Gerätschaften wie Lötkolben und Sägen arbeiten, doch mutmaßlich ähnliche Vorgaben wie in einer engen Raumstation ohne Schwerkraft und auf fremden Himmelskörpern. Dann aber werden die Fragen forscher: »Welche positiven Dinge fallen Ihnen zu Ihrer Mutter ein? Welcher war der schrecklichste Moment Ihres Lebens? Wo lag Ihr Einkommen im Jahr 2020?« Offenbar soll hier Unwohlsein durch das Eindringen in die eigene Privatsphäre verbreitet werden. Und es funktioniert.

Foto: Henning Rogge

Vor der Auswertung der Testfragen steht dann zunächst eine Art Fleißaufgabe. Im nächsten Raum voller Regale und Tische empfängt einen ein weiterer ernster Mitarbeiter in einer blauen Jacke. Er erklärt, dass man hier Ordnung ins Chaos bringe, »damit wir die Dinge besser verstehen«, und gibt Anweisungen, wie eine Handvoll Schrauben in zwei Kategorie zu sortieren sei: in solche mit flachen und solche mit gewölbtem Kopf. Eine Zeitbeschränkung für die Aufgabe bestehe nicht. Als wäre diese Übung nicht bereits ein wenig beleidigend (ein vierjähriges Kind könnte diese Herausforderung spielend meistern), erklärt der Mitarbeiter noch einmal genau, was zu tun ist, und sagt dann streng: »Bitte machen Sie das richtig«. Pfff.

Als das unterfordernde Sortieren geschafft ist, beschaut er sich die beiden Schraubenhaufen und scheint zufrieden. Dann geht es an die Auswertung des Fragebogens. Ist man, wie die Autorin, durchgefallen, weil man zum Beispiel nicht benennen konnte, welche Farbe Tom Sachs als »die Königin aller Farben« betrachtet, gibt der junge Mann einem den Bogen zur nochmaligen Begutachtung zurück. Nach dem zweiten Durchgang seufzt er und sagt: »Tja, Sie haben nicht bestanden. Ist schon in Ordnung.« Es ist ein wenig, als sitze man wieder in der fünften Klasse und verstehe diese vermaledeite Bruchrechnung nicht, aber weil der Lehrer einen mag und eigentlich genauso faul ist wie man selbst oder längst resigniert hat, lässt er es einem noch einmal durchgehen.

Der junge Mann bittet an den Schreibtisch, auf dem unter anderem eine mechanische Schreibmaschine und ein Stempelhalter stehen. Es folgt eine weitere Fragerunde, diesmal mündlich. Der Jüngling will jetzt wissen:

»Wie viele Sexualpartner*innen hatten Sie in ihrem Leben?« (Wie bitte? Das geht dich gar nichts an.)

»Wann haben Sie das letzte Mal gelogen?« (Vor drei Sekunden, bei der Frage nach der Zahl meiner Sexualpartner*innen natürlich!)

»Wie lautet das Passwort zu Ihrer E-Mail-Adresse?« (Hör mal, du Bengel, das geht jetzt aber wirklich zu weit).

Foto: Henning Rogge

Irgendwann sind alle impertinenten Fragen mehr oder weniger wahrheitsgemäß beantwortet und der Mitarbeiter reicht einen Ausweis über den Schreibtisch, komplett mit NASA-Logo, dem Schriftzug der US-Regierung und der Aufforderung »Help Keep America Safe«. Obwohl bis hierher nie die Rede davon war, ob man für die Sicherheit der USA mitverantwortlich sein möchte, die offenbar auch im All verteidigt wird, stellt sich eine Art dummer Stolz ein. Mit dem Ausweis erhält man nun Zugang zu bestimmten Teilen der Ausstellung – man fühlt sich also als Mitglied einer irgendwie elitären Gruppe.

Ein wenig erinnert dieser ganze Vorgang an das Verhältnis vieler Menschen zu den Sozialen Medien – und damit zu unseren Smartphones, um die es in der Ausstellung ja auch geht: Wir wissen, dass sie uns ohne Unterlass frech ausspionieren und viel zu viel wissen wollen über unseren Alltag und unser Privatleben. Und doch machen wir bereitwillig mit, weil sie uns Zeitgenossenschaft und Teilhabe versprechen.

Ursprünglich wollte Tom Sachs, dass alle Besucher*innen dieses »Space Program« die Indoktrination durchlaufen müssen, was aus logistischen Gründen ein schwieriges Unterfangen geworden wäre. Doch es zeigt, wie ernst es dem Künstler ist. Er möchte, dass sich sein Publikum den zwiespältigen Gefühlen aussetzt, die es bedeutet, Teil dieser Mission zu werden. Er möchte sie emotional involvieren, statt ihnen nur Dinge zum Anschauen hinzustellen.

Der gleiche Gefühlszwiespalt kann sich angesichts der Artefakte der Ausstellung einstellen, die aus der US-amerikanischen Warenwelt stammen und fester Bestandteil einer globalen Popkultur sind: die Coca-Cola, die offenbar als Verpflegung der Space Crew in der Sonde gedacht ist, die Marlboro-Schachteln, die halbvollen Flaschen Jack-Daniel's-Whiskey, die Verweise auf das Fast Food von McDonald's. Die meisten Menschen wissen, dass diese Dinge Fett, Zucker, Nikotin und Alkohol enthalten, also schlecht und zersetzend auf Körper und Geist wirken. Und doch dürstet es mindestens genauso viele wenigstens ab und zu nach diesen Genussmitteln, die dank der ebenfalls in den USA zur Perfektion gebrachten Instrumente Werbung und Marketing so verführerisch wirken können. Wir lieben es, diese Produkte zu hassen. Wir hassen es, dass wir sie lieben. Denn sie symbolisieren mehr als andere immer auch Konsum, Kapitalismus und Kaputtheit.

Foto: Henning Rogge

»Wir begeben uns nicht in andere Welten, weil wir diesen Planeten kaputt gemacht haben und eine neue Heimat suchen«, lässt sich Tom Sachs im Begleitheft zur Ausstellung zitieren, »sondern um unserer Ressourcen hier auf der Erde aufzufüllen und besser zu verstehen«. Man kann die Aufrichtigkeit seiner Aussage getrost in Zweifel ziehen und sie als eine Art bewusst missglückten PR-Sprech betrachten, der sich bei genauerer Betrachtung selbst entlarvt. Denn wenn die Ressourcen unseres Heimatplaneten aufgefüllt werden müssen, dann nur, weil wir sie vorher bis zur Neige ausgebeutet haben. Der Mensch will diese Materialien und Rohstoffe abseits der Erde doch nur deshalb besser verstehen, um sie in Zukunft noch effektiver auszubeuten.

Mit seiner »Indoktrination« innerhalb der Ausstellung schafft es Tom Sachs, die ganze Ambivalenz des menschlichen Expansionsbegehrens ins All spürbar zu machen. Mit seiner nur scheinbar kindlichen Begeisterung für die Raumfahrt zeigt er, wie schnell begeisterte Bereitwilligkeit in kritisches Bewusstsein umschlagen kann und sollte, und wie dünn die Grenze ist, die zwischen Zukunftsvisionen und Schreckgespenstern verläuft.

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Anne Waak ist Kulturjournalistin und Autorin. Ihr jüngstes Buch »Wir nennnen es Familie – Neue Ideen für ein Leben mit Kindern« ist in der Edition Körber erschienen.

Die Ausstellung TOM SACHS – SPACE PROGRAM: RARE EARTHS (SELTENE ERDEN) ist noch bis zum 10. April 2022 in der Halle für aktuelle Kunst zu sehen.


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