Lost & Found (or maybe stolen):
DAS POTLATCH-PARADOXON

Das ARCHIV REPRODUCTS sammelt Objekte, die ganz ungeahnte Geschichten in sich tragen. In dieser Kolumne schweigt die Künstlergruppe reproducts einmal im Monat – bis wir die Stimmen der Dinge hören, um festzuhalten, was sie zu sagen haben.

9. Mai 2022

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Inventarnummer D10117-220310

Beschreibung: digitaler Bilderrahmen der Marke Kodak, hergestellt ca. 2007, bestückt mit einer SD-Karte, darauf 313 Schwarzweiß-GIFs, Maße gesamt: 15 x 20 x 3 cm (HBT), Bildschirmdiagonale: 7 Zoll

Fundzeitpunkt:
10. März 2022, gegen 12 Uhr

Fundort:
Untergeschoss des Axel-Springer-Neubaus, in einem der Müllcontainer (Google Maps: 52.43925684779863, 10.810813103508085)

Umstand:
auf telefonische Bitte von »Anna« sichergestellt

Photogrammetrie und 3-D-Modeling: Linus Eckel

QUELLE: GOOGLE MAPS

Es begann alles mit einer äußerst bizarren Nachricht auf der reproducts-Mailbox. Am 10. März 2022 um 4:32 Uhr geht ein anonymer Anruf ein und eine computergenerierte Frauenstimme hinterlässt uns eine Botschaft…

Hier das Transkript des Anrufes:

»Hallo. Wer hier spricht, werden Sie nie erfahren. Nennen Sie mich einfach Anna – so wie die Stimme der Sprachausgabe an meinem Apple Macintosh. Gestern war mein letzter Tag bei BILD, mein letzter Arbeitstag überhaupt, und plötzlich überkam mich ein unwiderstehlicher Drang. Ja, geradezu ein Zwang! Ich muss wenigstens noch eine einzige gute Tat in meinem Leben tun!

1995 – 1998 – 2021: 26 Jahre umfasst diese transpersonale Schicksalsentwicklung – ein mystischer Akt, wie nur die BILD ihn dokumentieren kann.

Spontan nahm ich aus dem Büro von A.W. den kleinen digitalen Bilderrahmen mit, der in ihrem Büro an der Wand hing, gut sichtbar von ihrem Schreibtisch. Und ich warf ihn in den Müllsack eines der Gebäudereiniger, die gerade auf dieser Etage sauber machten. Und dabei auch meinen alten Arbeitsplatz einfach wegwischten, als wäre ich nie da gewesen. Aber das ist jetzt unwichtig. Viel wichtiger ist etwas anderes: Ich bin mir nämlich absolut sicher, dass dieser Bilderrahmen ein Hypnose-Werkzeug ist, mit dem der Niedergang des BILD-Imperiums seit 2001 herbeigeführt wird.

Ein zeitgenössisches Danaergeschenk...

Erst wirkt das ja ganz toll: Der Bilderrahmen zeigt wie ein Bildschirmschoner 313 der allerbesten BILD-Schlagzeilen durch die Jahre. Aber dann sind da diese komischen Wellenmuster bei den Überblendungen. Wenn man da länger hinschaut – das macht irgendwas mit dem Gehirn! Aber garantiert nichts Gutes!

Alles ist in allem – und alles ist BILD!

Auf dem Höhepunkt der allgemeinen Stimmung hatte P.B. – Sie erinnern sich sicher, das ist der, der sich damals so mit H.H.T. verkracht hatte – diesen Bilderrahmen K.D. mit großer Geste geschenkt. Und P.B. sagte dazu merkwürdig eindringlich und spitz: »Der soll Sie zu was Einmaligem inspirieren!«. Das verstehe ich heute allerdings ganz anders, denn einmalig – das ist das Ende. Das erlebe ich ja gerade selbst. Und genauso das Ende für BILD. Innerhalb von sieben Jahren hat viermal die Chefredaktion gewechselt! Und dann der totale Tiefpunkt mit dem ganzen schmutzigen Bohei um J.R. letztes Jahr… Auflage und Klickzahlen sinken und sinken – und niemand nimmt BILD mehr wirklich ernst! Mein ganzes Arbeitsleben – alles umsonst!

Haupteingang Axel-Springer-Neubau, Zimmerstraße.

Aber es war leider eine fatale Kurzschluss-Handlung! Wer weiß, ob dieser Unglücksbringer durch einen teuflischen Zufall nicht doch gerettet wird und so seiner Vernichtung entgeht?! Und neues Unheil anrichtet! Während ich schweißgebadet und zitternd durch die Wohnung lief, fiel mir Ihr Archiv ein! Denn aus dem Bericht vom März über die Sicherstellung von diesem tödlich verstrahlten Kompass der Geistreisenden und seine Entschärfung durch die einmalige Methode des Mental Demagnetizing® wurde mir schlagartig klar, dass nur das ARCHIV REPRODUCTS der richtige Aufbewahrungsort für diese Menetekel-Maschine ist! Ich kann nicht dorthin zurückgehen – jeder würde mich sofort erkennen. Da muss Ihr Team ran!

Einfahrt Tiefgarage Axel-Springer-Neubau, Jerusalemerstraße.

Der Bilderrahmen befindet sich im zweiten Müllcontainer von links im Untergeschoss des Axel-Springer-Neubau. Benutzen Sie die Einfahrt über die Jerusalemerstraße. Geben Sie sich als Fahrer von Uber Eats, Durstloescher.de oder Schnaps24.com oder einem ähnlichen »rund um die Uhr«-Lieferdienst für harte Alkoholika aus. Flüssignahrung für die Belegschaft wird bei Ein- wie Ausfahrt zu jeder Tages- und Nachtzeit expressabgefertigt, eine Durchsuchung des Fahrzeugs findet nicht statt. Ich empfehle aber zur Sicherheit, eine hochgeistige Alibi-Ladung im Wagen zu haben.

Lassen Sie bei jedem Schritt größte Vorsicht walten. Wenn Sie den Rahmen gesichert haben, schalten Sie das Gerät erst im Sicherheitsbereich ihres Archivs ein – bevor Sie in das Medusenhaupt der Angst blicken. Der Müll wird am frühen Nachmittag abgeholt. Ihnen bleiben etwa acht Stunden, um eine mögliche Katastrophe zu verhindern. Viel Glück!«


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reproducts: Auf externe Anforderung oder als interne Investition forscht und produziert die Gruppe seit dem vorigen Jahrtausend.
Herzkammer aller Unternehmungen ist das ARCHIV REPRODUCTS – ein Generator für Momentaufnahmen im Spiegeltunnel der Wechselwirkung von Bild und Abbild,
von Medium und Welt im Auge des Betrachters.


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