FOTO: HENNING ROGGE

20 Dollar für Leatherface

Der amerikanische Künstler Tom Sachs inszeniert sein New Yorker Studio als Kultstätte mit strengem Regelwerk – und liefert damit einen ironischen Kommentar auf das romantische Bild des Ateliers in der Kunstgeschichte. VON BASIL BLÖSCHE

22. März 2022

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Der amerikanische Künstler Tom Sachs gründete sein Studio in den frühen 1990er-Jahren in einer ehemaligen Nähmaschinenfabrik in Manhattan. Ihren ursprünglichen Namen Allied Machine Exchange wandelte Sachs leicht ab und bezeichnet sein Studio heute als Allied Cultural Prosthetics. Mit den Jahren wuchsen Sachs’ Projekte und damit auch das Studio, in dem heute circa 20 Personen arbeiten. Sie stellen Artefakte unterschiedlichster Grösse und Komplexität her, wobei ihre Entstehungsspuren immer offengelegt und für jede*n sichtbar bleiben. Diese Kunstwerke sind keine L’art pour l’art-Kopien von Fahrzeugen und Instrumenten, sondern verkörpern deren reales Potential in der vom Künstler geschaffenen Weltraumfahrt.

Die physische Kopie eines Objektes kann also die gleichen Funktionen und Kräfte besitzen wie das Original. »Analogiezauber« nennt sich dieses Phänomen, das auf einem anthroposophischem Konzept beruht. Das Studio wird so zu einem mystischen Ort alchemistischer Produktion, die auch vor der Inneneinrichtung der Räume nicht halt macht. Sämtliche Wände sind mit Objekten, Werkzeugen und Materialien bedeckt, das Studio wird als living sculpture zum Kunstwerk.

Die sozialen Medien sind für Sachs ein wichtiges Mittel um mit seinen vielen Followern zu kommunizieren und sie zur Partizipation einzuladen. Auf der Video-Plattform YouTube teilt er kurze, erklärende Einblicke in seine Arbeit, aktiviert das Publikum zur Teilnahme an einer Reihe von Challenges oder zeigt in aufwändig produzierten Filmen die korrekten Verhaltensweisen und Abläufe in seinem Studio.

So enthält 10 Bullets (2010) ein für die Mitarbeitenden bindendes Regelwerk, das jede*r Aussenstehende*n vor einem Besuch im Studio zu verinnerlichen hat. Ursprünglich als Einführungsvideo für Praktikant*innen erstellt, lassen sich Grundsätze wie Pünktlichkeit, Gründlichkeit und klare Kommunikation als Anregungen für ein besseres Zusammenleben auf private Beziehungen übertragen. Durch die strenge und dogmatische Vortragsweise in Verbindung mit der musikalischen Untermalung und der chaotisch anmutenden Studiowelt trägt 10 Bullets durchaus ironische Züge.

Wird eine der 10 Regeln im Studio nicht eingehalten, muss ein Bußgeld zwischen einem und 20 US-Dollar entrichtet werden, die Höhe bemisst sich nach der Regelüberschreitung. Der Betrag wird von Mal zu Mal verdoppelt und in einer Holzbox gesammelt, die mit einer Leatherface-Figur bekrönt ist, dem Protagonisten der Texas Chainsaw Massacre-Filmreihe. Die gesammelten Strafgelder werden aber für eine Party verwendet und so den Teammitgliedern wieder zugeführt.

Weitere Filme demonstrieren alltägliche Vorgänge wie das Fegen (How to Sweep, 2012), geben Aufschluss über Sachs’ Materialästhetik (Love Letter to Plywood, 2012) oder Farbtheorie (COLOR, 2012). Diese Videos sind auf den ersten Blick unterhaltend, dennoch zeigen sie das Studio nicht als bloßen Produktionsort, sondern als einen von Verhaltensregeln, moralischen Werten und ritualisierten Handlungen definierten Raum. Sachs bezeichnet das Studio in 10 Bullets als »sacred space« und dazu passend seine Mitarbeitenden und sich selbst als Kult, als Satanisten. Sein Instagram-Kanal ist als religiöse Gemeinschaft kategorisiert. Auch hier spielt Sachs mit subtiler Ironie. Seine Handlungsanweisungen erheben kultisch anmutende Absolutheitsansprüche und fordern eine Unterwerfung, die in der aktuellen Ausstellung SPACE PROGRAM: RARE EARTHS in der Indoktrination am eigenen Leib erfahren werden kann.

Sachs Satanismus hat wenig mit schwarzen Messen zu tun. Vielmehr bezieht er sich auf die 11 satanischen Gebote, die von Zurückhaltung und sozialer Kompetenz handeln und nicht von blutigen Opferhandlungen. Sie sind insofern mit den 10 Bullets vergleichbar, als dass beide Glaubenssätze auf ein harmonisches Zusammenleben und einen respektvollen Umgang miteinander abzielen. Sachs verfolgt eine humanitäre und auf Harmonie ausgerichtete Kultur, kein durch Aggression, Ausschluss und Elitarismus geprägtes Wertesystem. Er wird nicht müde, in Interviews die Bedeutung seiner Angestellten hervorzuheben und als unerlässlich für seine künstlerische Arbeit zu beschreiben.

Darin steht er den Werkstätten der Renaissance nahe, die für eine erfolgreiche Laufbahn auf die Realisierung von grossformatigen und personalintensiven Altargemälden angewiesen waren. Es ist überliefert, dass Raffael Spezialisten für verschiedene Bildgattungen beschäftigte und gezielt einsetzte. Giotto vermochte die malerische Qualität seiner Werkstatt derart zu vereinheitlichen, dass das Handwerk der zahlreichen Künstler*innen, die an einem Werk mitarbeiteten, heute nicht mehr unterschieden werden kann. So ist auch Tom Sachs auf ein gut funktionierendes Studio angewiesen, um derart monumentale Projekte wie die Weltraummissionen in angemessener Zeit umsetzen zu können.

Ein Blick in die Kunstgeschichte zeigt, dass das Sachs Studio als Teil einer langen Tradition rituell und moralisch durchdrungener Entstehungsorte der Kunst gesehen werden kann. Die Entwicklung eines speziellen Raumtyps gingen mit einer Selbstermächtigung der Künstler*innen im ausgehenden Mittelalter einher, die sich nicht länger als Handwerker*innen verstanden. Bis heute umgibt eine romantische Aura diese Räumlichkeiten und der Begriff des Ateliers ruft uns Gemälde wie Der arme Poet von Carl Spitzweg (1839) oder Gustave Courbets L’Atelier du peintre (1854/55) in Erinnerung.

Gustave Courbet, L'Atelier du peintre. Allégorie réelle, 1854-1855, Öl auf Leinwand, 361 cm x 598 cm. Sammlung Musée d’Orsay, Paris

Diese zwei Beispiele aus einer reichen Tradition von Atelierdarstellungen präsentieren sehr unterschiedliche, in ihrer Glorifizierung aber vergleichbare Ansätze. Ersteres zeigt die Fortführung künstlerischer Arbeit gegen alle Widerstände und Opfer, letzteres stellt das Gemälde im Akt der Entstehung ins gesellschaftliche Zentrum.

Eine beinahe magische Aufladung des Ortes genialischer Kunstproduktion sowie die Untrennbarkeit von Künstler*in und Atelier lässt sich im 20. Jahrhundert beobachten. So wurden die Räumlichkeiten von Constantin Brâncusi, Jackson Pollock oder Francis Bacon in museale Kontexte überführt. Es entstanden ihrer ursprünglichen Funktion enthobene, vom Geist der Künstler aber nach wie vor beseelte Andachtsräume – das Atelier als Kunstwerk.

Daniel Buren brach mit dieser Vorstellung und verfasste 1971 mit The Function of the Studio ein programmatisches Essay, in dem er die künstlerische Produktion in einem Atelier nicht als Ideal, sondern als grundlegendes Problem beschrieb. Dies führte Buren auf den Gedanken zurück, dass ein Kunstwerk stark vom umliegenden Raum beeinflusst wird. Ein im Atelier entstandenes Kunstwerk kann nach dessen Abtransport nie mehr im ursprünglichen und somit werkbestimmenden Kontext betrachtet werden und ist damit für immer unvollständig. Als Konsequenz dieser Überlegungen schuf Buren seine Werke am Ort der Präsentation und legte den Grundstein für die post-studio art. In dieser Bewegung versuchten die Künstler*innen, ihre Ideen aus dem Atelier in die Gesellschaft zu tragen und politischen Einfluss auszuüben.

Diesem Ruf folgten aber nicht alle Kunstschaffenden und die Geschichte des Ateliers lässt sich nahtlos ins 21. Jahrhundert fortschreiben. So ist ein stationäres Studio Grundlage und Ausgangspunkt für weltweit reüssierende zeitgenössische Künstler*innen, zum Beispiel Jeff Koons und Olafur Eliasson. Ihre grossen Studios ermöglichen als differenzierte und hochqualifizierte Produktions- und Denkstätten erst ein künstlerisches Werk dieser Quantität und Verbreitung. In Zeiten des globalisierten Kunstmarktes wird die Aura der Ateliers durch den unmittelbaren Zugang zu begehrten Kunstwerken zusätzlich verstärkt.

Sachs' Studio steht im Mittelpunkt seiner künstlerischen Arbeit und verbindet tradierte Werkstattmodelle mit zeitgenössischen Kunst- und Kommunikationsstrategien. Er verknüpft den mystischen Kreationsvorgang von kulturellen, sympathetischen Artefakten mit einer transparenten, in den sozialen Medien präsentierten Studioorganisation. In dieser Dualität stehen auch seine Kunstwerke, sie zeigen ihre Fertigungsspuren und ermöglichen gleichzeitig eine transzendentale Reise in andere Universen.

Das Ganze ist bei Tom Sachs mehr als die Summe seiner Teile. In den Worten des Künstlers: »One plus one equals a million.«

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Basil Blösche ist Kunsthistoriker und lebt in Zürich. Er ist Programmkoordinator bei videokunst.ch und betreut künstlerische Nachlässe.

Die Ausstellung TOM SACHS – SPACE PROGRAM: RARE EARTHS (SELTENE ERDEN) ist bis zum 10. April 2022 in den Deichtorhallen Hamburg zu sehen.


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