FOTO: PHILIPP MEUSER

»Die endgültige Entscheidung trifft der Algorithmus«

Für sein Projekt POCAS hat sich der mexikanische Künstler Pablo Somonte Ruano von einer Convience Store-Kette in México City inspirieren lassen, deren kapitalistische Werte er radikal umdeutet. Ein Gespräch über Counter-Ökonomien, Science-Fiction und digitale Realitäten. VON CAROLINE HUZEL

19. Dezember 2022

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Pablo, Dein Projekt für THEHOST.IS/HYPHEN-LABS trägt den Titel POCAS (Poca Organización Cooperativa de Auto-Servicio). Kannst du das Konzept ein wenig erläutern?
POCAS ist ein Selbstbedienungsladen, wie 7Eleven oder die mexikanische Ladenkette OXXO. Aber anstelle von kapitalistischen Werten wird er von Werten des Mutualismus geleitet, einer wirtschaftlichen Utopie, die auf Gemeinschaftlichkeit und Gegenseitigkeit beruht. POCAS ist ein Genossenschaftsladen, in dem alle Mitglieder Eigentümer*innen des Ladens sind. Das Konzept des Projektes besteht darin, ein postkapitalistisches Narrativ zu schaffen.

POCAS ist also eine spekulative Alternative zu OXXO, einer speziellen mexikanischen Convenience-Store-Kette. Warum hast du genau diese Art von Geschäft gewählt und nicht etwa ein typisches westliches kapitalistisches Symbol wie Apple, Starbucks oder McDonald's?
Das hat viel mit Mexiko-Stadt zu tun, wo ich herkomme. In Mexiko-Stadt haben diese Läden eine starke urbane Präsenz. Sie sind an jeder Ecke zu finden und sind für die Wirtschaft der Stadt von entscheidender Bedeutung. Sie haben rund um die Uhr geöffnet und sind eng mit dem Staat verflochten. Man kann dort sogar seine Steuern zahlen.

In der von den Hyphen-Labs kuratierten Season geht es um das Thema Grenzen. Inwieweit bezieht sich das Projekt darauf?
Es geht um die Grenzen innerhalb eines Nationalstaates; um die Frage, wie man Räume der Selbstorganisation jenseits des Staates schaffen kann, die aber innerhalb der Staatsgrenzen lokalisiert sind. In Mexiko gibt es bereits viele Räume, in denen es eine para-staatliche Kontrolle gibt, etwa bei Drogenkartellen oder den selbstorganisierten Gruppen der indigenen Bevölkerung.


Es geht also auch um die Grenzen, die durch den Kapitalismus und die ungleiche Verteilung von Eigentum entstehen?

Die Grenze des Eigentums ist von großer Bedeutung. Aber auch kollektives Eigentum schafft verschiedene Arten von Grenzen: Wer darf einen Raum betreten, wer entscheidet darüber? In Mexiko hat das kollektive Eigentum bereits seit der Revolution von 1910 eine lange Tradition. Mit POCAS lehne ich mich an diese Tradition an.

Du löst also einerseits Grenzen auf, schaffst aber gleichzeitig neue.
Ganz genau. Wenn man über Selbstständigkeit oder Selbstverwaltung spricht, zieht man automatisch eine Grenze. Wo fängt Selbstverwaltung an und was liegt außerhalb dieser Grenze? Es geht darum, neue Linien zu ziehen, für die wiederum neue Regeln gelten. Es geht nicht darum, Grenzen zu beseitigen, sondern – kollektiv – die Kontrolle darüber zu haben, wo diese lokalisiert sind.

Du bezeichnest dein Projekt als »Economic Science-Fiction«.
Ich stütze mich auf Mechanismen der Science-Fiction, indem ich ein System vorstelle, das zwar auf aktuellen wissenschaftlichen Erkenntnissen beruht, dabei aber narrativ in Richtung Zukunft weist und Möglichkeitsräume eröffnet. Dabei konzentriere ich mich auf den wirtschaftlichen Aspekt. Ich erschaffe keine Figuren oder Erzählungen, die Fiktion ist das wirtschaftliche Modell, das ich mit POCAS skizziere. Wenn man etwas als Science-Fiction definiert, hat man die Freiheit, radikal zu sein, ohne darüber nachdenken zu müssen, wie es umgesetzt werden könnte. Gleichzeitig ist es für die Menschen einfacher nachzuvollziehen, wie etwas mit der Realität zusammenhängt.

Dein Projekt als Science-Fiction zu definieren, gibt dir also mehr Raum, in verschiedene Richtungen zu denken.
Es befreit mich vor allem davon, mich mit dem mexikanischen Rechtssystem und -rahmen auseinanderzusetzen. Ich möchte nicht, dass die gesetzlichen Bestimmungen meine Vision von POCAS einschränken. Indem ich es als Spekulation oder Science-Fiction betrachte, stellen die Leute auch andere Fragen.

Könnte man es auch als Forschungsprojekt bezeichnen?

Auf jeden Fall. Auch wenn POCAS selbst eine Spekulation ist, basiert es auf bereits existierenden Systemen und Technologien. Es ist eher eine Art Narration, um die bereits existierenden Technologien und spekulativen Erzählungen von Gegenökonomien zusammenzubringen. Zusätzlich plane ich, Expert*inneninterviews mit verschiedenen Personen aus diesem Bereich zu führen.

Das Besondere an POCAS ist nicht nur das theoretische Konzept, sondern auch das Design des Projektes.
Da die Läden selbstverwaltet sein sollen, wollte ich, dass jeder Laden einzigartig ist. Anstatt mir das Design selbst auszudenken, habe ich mit Hilfe von KI mehrere Prototypen erstellt, die alle unterschiedlich aussehen. Ich habe nur einige Parameter festgelegt, wie sie aussehen sollten. Die endgültige Entscheidung hat der Algorithmus getroffen.

Ausstellungsansicht POCAS in den Deichtorhallen Hamburg, 2022. Foto: Henning Rogge

Aktuell ist dein Projekt im Auditorium der Halle für aktuelle Kunst in den Deichtorhallen zu sehen. Was erwartet die Besucher*innen dort?
Für die Ausstellung habe ich mit Hilfe bedruckter Stoffbahnen und verschiedenen Regalsystemen eine Art Ladenfläche entwickelt. Dazu gehört ein Kühlschrank mit eingelegten Lebensmitteln, welche die anderen beiden Residentinnen und ich im Herbst im Rahmen eines gemeinsamen Workshops mit den HYPHEN-LABS hergestellt haben. Auf einem Tablet zeige ich zusätzlich verschiedene KI-generierte Prototypen von POCAS. Auf diese Weise wird aus dem theoretischen Konzept ein begehbares, dreidimensionales Erlebnis.

Du spielst also mit künstlicher Intelligenz und digitalen Realitäten. Geht es dir um den Moment, in dem das Publikum nicht mehr unterscheiden kann, was real und was künstlich erschaffen worden ist?
Mir gefällt dieses Spiel mit der Frage: Ist etwas echt, ist es nicht echt? Wenn da nur eine Sekunde des Zweifelns ist, in der man sich fragt, ob es etwas wirklich gibt, dann habe ich meiner Meinung nach gute Arbeit geleistet. Denn dann gibt es diesen Moment der Fantasie, in dem etwas tatsächlich real sein könnte.

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Pablo Somonte Ruano (*1992, Mexiko) arbeitet mit mehrdeutiger Software, generativen Systemen, experimentellen Websites, transmedialen Erzählungen, p2p-Infrastrukturen und ungewöhnlicher Musik. Zurzeit ist Ruano im MA-Programm für Theorie, Technologie und Design an der Hochschule für Künste Bremen eingeschrieben. Er arbeitet als Design Lead für das Web-Framework Neighbourhoods.

Caroline Huzel studierte Kulturwissenschaften und Kommunikationswissenschaft in Lüneburg und Münster. Derzeit arbeitet sie als Volontärin in der Kommunikation bei den Deichtorhallen Hamburg.

Die Ausstellung THEHOST.IS/HYPHEN-LABS – ANYTHING TO DECLARE ist bis zum 15. Januar 2023 im Auditorium der Deichtorhallen Hamburg zu sehen.


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