Lost & Found (or maybe stolen):
Gedankenstrom aus Bad Endbach

Das ARCHIV REPRODUCTS sammelt Objekte, die ganz ungeahnte Geschichten in sich tragen. In dieser Kolumne schweigt die Künstlergruppe reproducts einmal im Monat – bis wir die Stimmen der Dinge hören, um festzuhalten, was sie zu sagen haben.

29. September 2021

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Inventarnummer D60549-180803

Beschreibung:
Modell eines Röhrenfernsehers aus Plastikteilen in Orange, Hell-/Dunkelchamois und Grau, 4,7 x 5,5 x 2,5 cm (HBT)

Fundzeitpunkt: 3. August 2018, 7.15 Uhr

Fundort: Frankfurter Flughafen, Terminal 1, in einem Papierkorb direkt vor dem Zugang zur Camel Smoking Lounge (Google Maps: 50.047144789705484, 8.572526562853955)

Umstand: vibrierend unter Bananenschale, Sandwich- und Zigarettenschachteln

Photogrammetrie und 3-D-Modeling: Linus Eckel

Quelle: Google Maps

Die deutsche Forschungszentrale für den AlphaX-Mobilfunkstandard (Frequenz-Versteigerung nicht vor 2028) ist das gut getarnte Kuckucksei in der Berglandklinik in Bad Endbach – einem hessischen Kurort, der mitten in Deutschland am Ende der digitalen Welt zu liegen scheint. Doch »in Bad Endbach waren schon immer alle Bildschirme flach«, wie Jakub Olafsson, der vorletzte Leiter des Forschungszentrums, in glühweinseliger Laune auf einer Weihnachtsfeier einmal reimte. Leider ist er viel zu früh und unter äußerst merkwürdigen Umständen verschwunden.

Aber das ist eine andere Geschichte, unser Interesse richtet sich ganz auf den im Frühjahr 2018 verübten Angriff auf den Hochsicherheitstrakt des geheimen Labors. Der von absoluten Profis durchgeführte Einbruch hätte alle Voraussetzungen für einen Hollywood-Film gehabt, wäre die Katastrophe nicht aus gutem Grunde totgeschwiegen worden – zu kostbar war das entwendete Knowhow, das der deutschen Digitalindustrie den entscheidenden Vorsprung gegenüber China und Nordkorea sichern sollte: der stecknadelkopfgroße ULTRON-Chip!

Foto: reproducts

Der ULTRON-Chip (geplanter Slogan für die Kampagne: »Always Ultron – never off!«) könnte nicht nur die unvorstellbaren Informationsmengen für eine Darstellung von 16K-Videos in 3-D spielend verarbeiten, sondern ganz nebenbei auch mehrere Terabyte an Daten in Pikosekundenbruchteilen speichern. Nein, – und dies ist der absolute Quantensprung –, der ULTRON-Chip ermöglicht die Steuerung allein durch die Gedanken des Nutzers!

Foto: reproducts

Das ganz ihrem Berufsethos verpflichtete formsprachliche Understatement der Forscher in Bad Endbach sollte sich als die Rettung dieses Projekts herausstellen. Die vier Industriespione suchten nach dem leuchtenden, dem alles überstrahlenden Heiligen Gral der Mikroelektronik – und übersahen dabei das talmihafte, alte, billige der antiken Analogtechnik.

Zwar hatten sie akribisch sämtliche Forschungsunterlagen mitsamt allem, was sonst noch auf und in den Schreibtischen der AlphaX-Forschenden lag, mitgenommen, aber wie so oft haperte es an der Sichtung des Materials. Zu dem Beifang dieses Raubzuges gehörte nämlich auch jener kleine Andenken-»Fernseher«. Sein bahnbrechendes Innenleben blieb den Spionen ob seiner Unscheinbarkeit offenbar verborgen. Und auf welchem Wege genau dann das »Patented foreign«-Plastikkästchen an diesem 3. August ausgerechnet in einem bereits seit Jahren durch reproducts-Mitarbeiter engmaschig überwachten Papierkorb des größten deutschen Flughafens landete – bleibt nach wie vor ungeklärt.

Anstatt den kleinen Kasten einfach wegzuwerfen, hätte die Person nur ein Mal das Wort an das »PLASTiSKOP« richten müssen – so wie sonst ständig an Alexa oder Siri. Dann wäre den leerhändigen (und sehr bald völlig handlosen) Dieben der Rückflug in ein namenloses Geheimgefängnis ihres Heimatlandes erspart geblieben. Ohne Zweifel hätte die Entdeckung des gesuchten Chips sie vor diesem Schicksal bewahrt, doch dafür will ULTRON stets als Entität angesprochen sein. Eine Marotte, die die Forscher in Bad Endbach dem Chip bisher nicht austreiben konnten. Alles deutet darauf hin, dass mit zunehmender Komplexität eines Systems die Entwicklung einer Art Persönlichkeit unvermeidlich ist – oder wie der Volksmund im Hessischen Hinterland sagt: »Die Ding lebbä un lebbä lass!«

Im ARCHIV REPRODUCTS war man sich schon aus einer gewissen natürlichen Ehrfurcht vor einem solchen Geniestreich der Halbleitertechnik bewusst, dass der Chip beim Namen genannt sein will. Und ULTRON – so angesprochen – stellte sofort eine Verbindung zum Gedankenstrom des Sprechenden her. Als Ergebnis der komplexen Interaktion zwischen dem Chip und der Gehirnaktivität der für die Inventarisierung des Fundstücks zuständigen Person erschienen plötzlich diese drei Preziosen der Film- und Fernsehgeschichte auf reproducts.de.

Was hätten wohl die vier Industriespione aus der Smoking Lounge (die derzeit gute Fortschritte im Rauchen mit den Zehen machen) zu sehen bekommen, hätten sie ULTRON damals angemessen angesprochen? Wir werden es nie erfahren. Zu verschieden und zu individuell sind die Gedanken in ihrer Freiheit und alles, wirklich alles strömt über und durch diesen ultimativen Chip, um eine ungedachte Querverbindung der Sub- und Metatexte im Strom der Worte und Bilder und Gefühle jenseits jeder Vorstellung und Berechnung herzustellen. Das ist wirklich – ULTRON!

Das Objekt steht aufgrund einer einstweiligen Verfügung des Wirtschaftsministeriums nicht mehr nach vorheriger Anmeldung im ARCHIV REPRODUCTS zur Betrachtung und Berührung frei.

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reproducts
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Auf externe Anforderung oder als interne Investition forscht und produziert die Gruppe seit dem vorigen Jahrtausend. Herzkammer aller Unternehmungen ist das ARCHIV REPRODUCTS – ein Generator für Momentaufnahmen im Spiegeltunnel der Wechselwirkung von Bild und Abbild, von Medium und Welt im Auge des Betrachters.


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