© Daniel Arnold (@arnold.daniel)

Himmel, was ist da los?

Die Street Photography ist auf Instagram allgegenwärtig: Fast 45 Millionen Bilder finden sich in dem sozialen Netzwerk unter dem Hashtag #streetphotography. Geht es hier überhaupt noch um Kunst? VON ANIKA MEIER

11. Oktober 2018

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An einem Freitag vor ein paar Wochen fragte mich Anna Gripp, die Chefredakteurin von Photonews, ob ich nicht Tod Papageorge interviewen wolle. Ich solle ihn doch einfach Samstag, also am nächsten Tag in Amerika anrufen, er freue sich auf meinen Anruf. Tod Papageorge ist ein Wegbegleiter von Garry Wingogrand und Joel Meyerowitz gewesen, mit ihnen ist er in den 70er Jahren fotografierend durch die Straßen von New York gezogen. Film war damals teuer, er selbst arm. Während die beiden anderen zu historischen Größen in der Geschichte der Straßenfotografie wurden, entschied sich Tod Papageorge, nicht bewusst, wie er sagte, aus ökonomischen Gründen für die akademische Laufbahn. In Yale hatte er die große Aufgabe, das Departement für Fotografie aufzubauen, zu seinen Schülern zählte unter anderem Philip-Lorca diCorcia. Jetzt, 50 Jahre später, ist es seine Obsession, aus seinen Arbeiten von damals Fotobücher zu machen. In der Galerie Thomas Zander in Köln ist noch bis Ende November die Ausstellung Dr. Blankman’s New York zu sehen.

Natürlich habe ich ihn am Telefon auch gefragt, wie er zu Instagram steht und ob er dort die Entwicklung der Straßenfotografie mitverfolgt. Seine Antwort fiel kurz aus: Nein, das interessiere ihn nicht, er glaube nicht, dass dort wirklich Neues passiere. Und ja, immer wieder erzählen ihm Leute, dass Street Photography auf Instagram ein großes Thema sei. Wie gesagt, er selbst, wolle sich damit nicht weiter befassen.

Freddy Langer konstatiert in seiner Besprechung der Ausstellung »Street. Life. Photography« in der F.A.Z. ein neuerliches Interesse an der Straßenfotografie, die vielleicht, so seine Vermutung, einer Hinwendung zur Wirklichkeit geschuldet sei. Er schreibt: »Auf Instagram findet man unter dem Hashtag #streetphotography mehr als 45 Millionen Beiträge, und aller juristischen Bedenken zum Trotz werden es täglich mehr – fast so, als könne man sich inmitten des Lebens Überfluss nur noch mit Bildern selbst vergewissern und in der Beobachtung der anderen seiner eigenen Position bewusst werden. Am Schnittpunkt von Schnappschuss, Reportage und Dokumentation wird die Straßenfotografie zu einer Art Anker. Dass unter dem Hashtag auch Tausende Selbstporträts stehen, könnte genau damit zu tun haben.«

Tod Papageorge, New York, 1967, © Tod Papageorge, courtesy Galerie Thomas Zander, Cologne

Dass unter dem Hashtag auch Tausende Selbstporträts stehen, hat in erster Linie damit zu tun, dass Hashtags auf Instagram genutzt werden, um die eigene Reichweite zu steigern, das heißt, es werden bisweilen Hashtags aneinandergereiht, die inhaltlich keinen Bezug zum Gezeigten haben. Nichtsdestotrotz ist die Beobachtung richtig, dass sich die Straßenfotografie im sozialen Fotonetzwerk großer Beliebtheit erfreut.

Street Photography ist auf Instagram allgegenwärtig. Oft versehentlich, oft überhaupt nicht mit der Absicht geteilt, ein Foto zu zeigen, sondern einen Menschen, über dessen absonderliches Verhalten oder wunderliche Kleidung man sich lustig machen möchte. Smartphones sind unauffälliger als Kompaktkameras, ein Foto ist schnell gemacht und noch schneller in einem sozialen Netzwerk geteilt. Mit dem Smartphone bewaffnet ist es leichter denn je, den Mitmenschen mit einer Kamera nahe zu kommen, ohne dass sie davon Kenntnis nehmen.

Der Verdacht liegt nahe, dass es auf Instagram wenig um Kunst und viel um Schindluder geht. Der Verdacht ist allerdings auch leicht entkräftet, denn Fotografen, die sich mit Street Photography auf Instagram international einen Namen gemacht haben, sind schnell aufgezählt. Tod Papageorge hat sich denn auch den Namen des New Yorkers Daniel Arnold diktieren lassen, der mittlerweile regelmäßig für die New York Times und die Vogue fotografiert. Fast 200.000 Menschen folgen ihm, weil sie seine brutal ehrlichen, laut kreischenden und anrührend entwaffnenden Fotos aus den Straßen New Yorks sehen wollen.

Der Fotografie-Kritiker Jörg Colberg hat in seinem Beitrag über »Die Welt der Macho-Fotografie« im Monopol Magazin kürzlich schon auf die veränderte Rechtslage hingewiesen: »Die Winogrand-Welt, die Welt der sogenannten Straßenfotografie, versucht bereits, sich mit einer veränderten Umwelt auseinanderzusetzen: Die Leute auf der Straße wollen es einfach nicht mehr hinnehmen, dass irgendein Fotograf, eine Fotografin ihnen ohne ihre Erlaubnis einen Fotoapparat ins Gesicht hält.« Er erklärt: »In weiten Teilen Europas ist dies nun auch gesetzeswidrig. Das neue europäische Datengesetz betrachtet Fotos als Daten, und es gibt den Bürgern die Möglichkeit zu entscheiden, was mit ihren Daten gemacht werden darf. Wenn ein Fotograf oder eine Fotografin also jemanden fotografiert, dann sind das nicht ihre Daten – es sind die Daten der Person im Bild. Und sie benötigt die Einwilligung dieser Person.«

© Uwa Scholz (@uwa2000)

Als Instagram neu und die Größe des Publikums fast intim war, waren Instagrammer, die mittlerweile ihr Geld als so genannte Influencer durch Kooperationen mit Unternehmen und Marken verdienen, in Deutschland häufig als Straßenfotografen unterwegs. Der Berliner Thomas Kakareko, @thomas_k auf Instagram, heute knapp 700.000 Follower, hat in den ersten Jahren Straßenszenen in der Hauptstadt eingefangen. Oft waren das intime Momente und immer öfter hat er Nachrichten bekommen, das sei ja dieser und jener, Freund, Onkel, Tante, Opa, Papa – die Gefahr abgemahnt zu werden und damit eine Geldstrafe zu zahlen, war plötzlich allgegenwärtig. Heute fotografiert er apokalyptisch wirkende Stadtansichten, Menschen kommen nur als winzige Rückenfiguren zum Einsatz, als Maßstab. Auch die Berlinerin Uwa Scholz, @uwa2000 auf Instagram, knapp 200.000 Follower, achtet darauf, dass Menschen nicht zu erkennen sind, sie arbeitet deshalb mit Silhouetten und Rückenfiguren.

Tod Papageorge derweil geht aktuell durch sein Archiv. Die Fotografie hat er nie aufgegeben, und wenn während des Semesters keine Zeit war, hat er in den Ferien und auf Reisen kontinuierlich fotografiert. Wie er bei seiner Auswahl vorgeht, wollte ich von ihm wissen, was für ihn eine gute Straßenfotografie ausmacht, die Aufnahme in einem Buch finden muss. Er antwortete: »Ich suche nach Komplexität. Das ist, was ich in vielen von Henri Cartier-Bressons Fotos sehe, das habe auch ich mir als Ziel gesetzt. Bei aller Komplexität ist mir außerdem Kohärenz wichtig. Mir geht es dabei nicht um eine perfekte malerische Form, sondern darum, dass jedes Element klar ist und seinen Teil zur Ordnung des gesamten Bildes beiträgt. Hier unterscheiden Garry Winogrand und ich uns sehr. Er war brillant darin, Bilder zu machen, die nicht unbedingt kohärent sind. Während ich nach Komplexität und Kohärenz suchte, war Garry eher ein Genie wie Picasso, die Unordnung haucht den Bildern Leben ein. Das Dritte, was mir wichtig ist: Vor den Augen des Betrachters soll sich eine Geschichte entfalten, die man so nicht unbedingt auf der Straße findet. Die Fotografie soll zeigen, dass sie ein gemachtes Werk ist, ein Kunstwerk und nicht einfach nur eine Wiedergabe von Ereignissen auf der Straße.«

Komplexität, Kohärenz und Kunst sind für ihn die entscheidend. All das findet man auch bei Straßenfotografen auf Instagram.

© Ryan Staley (@powercorruptionandlikes)

Der New Yorker Daniel Arnold ist Garry Winogrand näher als Tod Papageorge. Arnold setzt auf die Unordnung in den Straßen, auf die Bewegungen, die er einfriert und auf die Geschichten, die dadurch entstehen. Oft denkt man sich beim Scrollen durch Instagram, wenn wieder eins seiner Fotos auftaucht: WTF?! Also, nicht umgangssprachlich formuliert: Was geht hier vor sich?

Das maximale Gegenteil davon ist das Vorgehen von Ryan Staley, der über Instagram zur Straßenfotografie kam. Im richtigen Leben ist er Anwalt, im sozialen Fotonetzwerk ist er unter dem Pseudonym @powercorruptionandlikes unterwegs. Er manipuliert durch das Spiel mit Achsen und Nähe und Distanz Straßenszenen, so das mal grafische und malerisch abstrakte Momentaufnahmen entstehen und mal absurd surrealistische Momente. Beim Betrachter löst er Verwunderung und Erstaunen aus. Er selbst findet Street Photography langweilig. Stunden- und tagelanges zielloses Herumlaufen in der Hoffnung auf einen Glückstreffer, das interessiert ihn nicht. Wenn er unterwegs ist, ergeben sich in gut drei Stunden im besten Fall sechs oder sieben Gelegenheiten, bei denen er dann zwei oder drei Bilder macht. Er möchte seine Umgebung manipulieren, sagt er, Dissonanzen erzeugen. Er geht sehr nah heran, geht in die Knie, sucht nach Perspektiven und Möglichkeiten einzugreifen mit seiner Kamera. Manchmal sei ihm die Malerei näher als die Fotografie, gibt er zu, seine Bilder sind deshalb sehr grafisch und klar strukturiert. Vielleicht auch weil klare Kompositionen auf Instagram besser funktionieren, Bilder müssen beim schnellen Scrollen genauso schnell erfasst werden können. Oder es muss so schräg sein, dass man das hastige Scrollen abrupt unterbricht und sich fragt: »Himmel, was ist da los?«

Stundenlang könnte es weiter gehen mit der Vorstellung von Straßenfotografen auf Instagram. Etwa mit der Poesie einer @efi_o aus Berlin oder mit der entblößenden Zärtlichkeit eines Matthew Lewis. Wer sich nicht selbst die Zeit nehmen kann, auf Entdeckungsreise auf Instagram zu gehen, der folge dem Intercollective, hier gibt es kuratiert das Best of Street Photography in Zeiten sozialer Medien. Schnell wird deutlich, dass die Qualität in den Bilderfluten nicht untergeht, sondern hier und da nach oben gespült wird.

Anika Meier ist auf Instagram unter @anika und @thisaintartschool zu finden. Ihr Interview mit Tod Papageorge ist in Photonews 10/2018 erschienen.


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