Lost & Found (or maybe stolen):
Voll versemmelt

Das ARCHIV REPRODUCTS sammelt Objekte, die ganz ungeahnte Geschichten in sich tragen. In dieser Kolumne schweigt die Künstlergruppe reproducts einmal im Monat – bis wir die Stimmen der Dinge hören, um festzuhalten, was sie zu sagen haben.

2. November 2021

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Inventarnummer D57635-080214

Beschreibung:
Papiertüte, zweifarbig bedruckt, leichte Gebrauchsspuren, 23 x 32 cm

Fundzeitpunkt:
14. Februar 2008, 9.15 Uhr

Fundort:
Hamburg, Zentrale reproducts, Frühstücksraum, (Google Maps: Koordinaten unbekannt)

Umstand:
auf dem Frühstückstisch

Photogrammetrie und 3-D-Modeling:
Linus Eckel

Quelle: Google Maps

Es geht doch nichts über einen ordentlichen Giersch-Gundelreben-Smoothie zum Frühstück. Und dann mit fast schon verdächtigem Elan an die zutiefst befriedigende Archivarbeit. So heutzutage. Allerdings erinnert sich manch langjähriger Mitarbeiter auch an andere Zeiten, die geprägt waren durch glutengesättigte postcereale Ermattungszustände: Kaum hatte man sich vermeintlich gestärkt, schon riefen wieder sirenengleich die Staubmilben aus den Matratzen in den Einzelboxen-Ruheräumen, und viele folgten fatalistisch ihrem Ruf in die Tiefen eines vormittäglichen Nickerchens oder verschwanden bis zum nächsten Tag gänzlich von der Bildfläche.

An einem ebensolchen Morgen fiel wohl der Blick einer der im Archiv tätigen Personen auf die wie jeden Tag in aller Eile besorgte und nun vor sich auf dem Tisch liegende, doch bereits vollständig geleerte Brötchentüte. Die spontan herausplatzende Schimpftirade erregte sogleich die Aufmerksamkeit der eben noch vollkommen apathischen Belegschaft. Man wandte sich also gemeinsam der Brötchentüte zu, um sie in näheren Augenschein zu nehmen.

Was also war zu sehen?
Eine Brötchentüte, eine einfache Brötchentüte.

Zu welchem Zweck werden Brötchentüten, Schrippenbeutel, Semmelsackerl, Laibchenplunzen oder auch Wecketraga hergestellt?

Sie haben die Aufgabe, frische Backwaren auf dem Wege zwischen Verkauf und Verzehr vor schädlichen Umwelteinflüssen zu schützen sowie ihren Transport zu erleichtern. Die Tüte ist aus Papier, damit die Knusprigkeit der Waren nicht beeinträchtigt wird. Die Tüte kann nach Gebrauch in den Müll geworfen, verbrannt oder zu anderen Zwecken verwendet werden. Das ist in der Regel ihr Sinn und Zweck, dazu wird sie hergestellt und eingesetzt.

Was aber ist nun das Besondere an dieser Brötchentüte von Bäcker Arndt? Was fällt hier auf?

Versammeltes Schweigen. Sehr richtig. Die Tüte ist von außen bedruckt! Wozu, wird sich vielleicht mancher jetzt fragen, wozu lässt man eine Brötchentüte bedrucken?

Genau: Wer sich genötigt sieht, so tautologische Zuschreibungen auf dem ohnehin absolut Offensichtlichen anzubringen, dessen Selbstbewusstsein steht auf tönernen Füßen. Bäcker Arndt scheint in seinem tiefsten Inneren nicht auf die Qualität seiner Backwaren, ergo in seine Fähigkeiten als Bäcker, zu vertrauen.

Er glaubt nicht daran, dass die Menschen seine Brötchen essen und sagen: »Das ist ein gutes Brötchen – Bäcker Arndt muss es gebacken haben.«

Nein, Bäcker Arndt nichtet seinen Zweifel im Außen, so wie er ihn in seinem Innern hasst.

Er lässt die Tüte beschriften mit: Bäcker Arndt.

Somit ist unmissverständlich der Schöpfer des Inhalts dieser Tüte für jeden klar ersichtlich: Bäcker Arndt!

Auch die Wahl der Schriftfarbe verrät viel über Arndts Ansinnen. Blau ist die beliebteste der Farben. Sie steht für Vertrauen, Verlässlichkeit, Sicherheit.

Wie sehr muss es wohl einem Menschen an diesen Eigenschaften mangeln, um über die Hintertür der Farbsymbolik sich anbiedernd Eingang in die Herzen der Kunden suchen zu müssen?

Doch damit noch lange nicht genug: Bäcker Arndt lässt zusätzlich sein Konterfei zwischen seine Berufsbezeichnung und seinen Namen setzen, selbstverständlich ebenso blau gefärbt. Was das bedeutet, wollen wir uns hier lieber nicht ausmalen.

Auch die Art, in der sich der Bäcker von dem uns unbekannten Illustrator darstellen lässt, gibt Aufschluss über die Person Arndt: Sich hinter einer Karikatur seiner selbst versteckend, enthält uns Bäcker Arndt seine wahre Persönlichkeit vor.

Die verkrampft lässige Haltung der Figur schreit die biedere Verkniffenheit seines Charakters geradezu heraus. Auch die beachtliche Größe seines Nudelholzes, das eine besondere Rolle für ihn zu spielen scheint – warum sonst wäre es orange – lässt auf Vorhandensein der üblichen Komplexe schließen. Farblich findet die phallokratische Krücke ihren Widerhall in einem Halstuch, das dem Träger die Luft sinnbildlich abzuschneiden droht. Nun weist das Blau des Gesichts auf eine ganz neue Bedeutungsebene hin.

Ein Wicht im Angesicht des Erstickungstodes durch die eigene vor sich hergetragene Megalomanie – mit anderen Worten: eine durch und durch armselige Kreatur in der Schwebe zwischen aufrauschender Asphyxie und Abyssus.

Über dieser Tragödie schwebt in luftiger Höhe eine skeptisch lächelnde Sonnenblume. Vielleicht ein Zeichen der Selbstironie? Weit gefehlt!

Das Innere der Blüte ist bereits blau angelaufen – dem Verfall anheimgegeben.

Flankiert wird sie von zwei weiteren Blumen des Bösen und soll wohl mit ihnen zusammen eine Art unheilige Dreieinigkeit bilden. Dies aber wird konterkariert durch die vom Moment bestimmte Konzeptlosigkeit des »Grafik-Designers«, der sich auf dieser Tüte verewigen durfte. »Mmmmh«, scheint er sich gedacht zu haben, »alle drei in eine Richtung gucken zu lassen ist irgendwie langweilig. Ich dreh’ einfach mal eine um!«

Mancher mag sich nun fragen, warum sich überhaupt auf der Tüte Sonnenblumen befinden? Oder – schauen wir einmal genauer hin – sollte es sich vielleicht gar um etwas ganz anderes handeln? Treten wir doch einmal alle gedanklich ein paar Schritte zurück und schauen uns an, was das große Ganze uns verrät.

Unter den drei – wir nennen es mal vorübergehend – Sonnenblumen öffnet sich in stilisierter Form ein Mund.

Im Inneren des Mundes befinden sich drei Worte: Brot, Brötchen, Snacks – gedruckt in blau. Der orangefarbene Mund scheint sich diese drei Worte einzuverleiben.

Die Lippen des Mundes werden durch zwei typographische Bögen dargestellt, die einen zweizeiligen Reim bilden.

Auffällig an diesem Reim ist, dass es sich beim Versfuß der ersten Zeile um einen Trochäus, fallend also, handelt: Laß es mor - gens rich - tig knack - ken…

…während der Versfuß der zweiten Zeile ein Jambus, ein Steiger, ist: dann wirst Du täg – lich la – chen.

Es handelt sich also um einen recht gewagten Rhythmuswechsel, der am Ende der zweiten Zeile noch verwegener in einen unechten Reim mündet: Knacken – Lachen.

Um es kurz zu machen: hier wird endlich deutlich, was das grundlegende Konzept der Gesamtanordnung aller graphischen und typographischen Elemente auf dieser Brötchentüte ist:

- das Lächeln der Blüten oben,
- das Lachen des typographisch dargestellten Mundes,
- das Grinsen der Bäckerfigur,
- und schließlich, ganz deutlich, das Wort Lachen am Ende der ersten Reimzeile: All dies sind Vermeidungen oder Verniedlichungen, gleichwohl aber überdeutliche Anspielungen auf das Zusichnehmen und Vonsichgeben – also auf das Thema Verdauung: Knacken – Lachen

Damit das jedoch an keinem Unterbewusstsein spurlos vorübergeht, wird man überdeutlich:

- die Farbe blau zieht eine Spur von Bäcker Arndt…
- über die Brote, Brötchen, Snacks zwischen den reimenden Lippen…
- zu den über allem schwebenden Rosetten der Blüten...
- und unter sich in den träge fließenden Strom aus blauen, würsteförmigen Stücken von Verdautem.

Während die Säule seiner Macht orange in Sonne und Worten lacht – solange »knacken« zu »lachen« führt, ganz ohne das böse Wort, denn das gehört allein an einen Stillen Ort –ist es ebenso Fazit wie Entschuldigung, was da durch die orange Farbe so unmittelbar auf ihn bezogen – von zwei Gedankenstrichen gefasst – auf den blauen Würsten dahintreibt – »denn hier schmeckt’s!«

Verträumt steht Bäcker Arndt an diesem Styx aus dunklen Frühstücks-Leibesfrüchten und sinniert vor sich hin.

Denn hier schmeckt’s – ja, wonach denn, Bäcker Arndt, wonach schmeckt es wohl bei Ihnen, na, wonach wohl?! – möchte man ihm zurufen.

Doch einer der Frühstückenden schüttet bereits die letzten Krümel aus der Brötchentüte, verpackt das denkwürdige Fundstück in einer UV-strahlensicheren Klarsichthülle und beschriftet es ordnungsgemäß. Von den anderen Anwesenden gibt es keinen Widerspruch. Klarer Fall: Ein Fundstück für das ARCHIV REPRODUCTS.

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reproducts
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Auf externe Anforderung oder als interne Investition forscht und produziert die Gruppe seit dem vorigen Jahrtausend. Herzkammer aller Unternehmungen ist das ARCHIV REPRODUCTS – ein Generator für Momentaufnahmen im Spiegeltunnel der Wechselwirkung von Bild und Abbild, von Medium und Welt im Auge des Betrachters.


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