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»Dieter Roth ist kein Antikünstler«

Der deutsch-schweizerische Künstler Dieter Roth experimentierte mit Lebensmitteln und Schimmel – und war doch immer auf der Suche nach Schönheit. Ein Gespräch mit dem Kurator Dirk Dobke über Roths Druckgrafik, Schokolade und die Kunst des Verfalls. VON VERONIKA SCHÖNE

12. Januar 2023

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Dirk Dobke, den Künstler Dieter Roth kennt man als enfant terrible, der die bürgerlichen Kategorien von Kunst infrage stellt. Vor allem seine Verwendung von Lebensmitteln und anderen organischen Materialien wie Käse, Joghurt und Schokolade, aber auch Wurst und sogar Fleisch ist berüchtigt. Die Druckgrafik steht weniger im Zentrum. Welchen Stellenwert nimmt sie tatsächlich in seinem Werk ein?
Die Druckgrafik ist absolut zentral. In dem Moment, als Roth anfängt zu zeichnen, beginnt er auch, sich druckgrafisch auszudrücken. Die erste Radierung ist mangels professionellen Materials auf Dosenblech entstanden, da ist er erst 16 Jahre alt. Man kann sein gesamtes Oeuvre in den verschiedenen Phasen in der Druckgrafik abbilden. Eine Druckgrafik-Ausstellung Dieter Roths ist damit eigentlich so etwas wie eine Retrospektive.

Die Druckgrafik dient klassischerweise der Verbreitung von bereits entwickelten Werkideen. Sie gilt eher als reproduktiv und weniger als genuin schöpferisch.
Roth arbeitet nicht nur mit ihren Möglichkeiten der Druckgrafik, sondern auch mit ihren Grenzen. Sie unterwirft den Schaffensprozess einem gewissen Korsett. Man arbeitet in ein Material hinein, muss mit dessen Eigenschaften umgehen, sich an technische Standards halten. Diese Standards bricht er sehr früh, er thematisiert sie durch Verwischungen und Auflösungen und seine berüchtigten Materialexperimente mit Lebensmitteln wie Käse, Schokolade oder Bananen, die er, wie der Ausstellungstitel ja auch besagt, presst, drückt und quetscht. Seine intellektuellen und künstlerischen Ideen verzahnen sich mit, reiben sich aber auch an den technischen Vorgaben, die er bricht und infrage stellt. Das ist ein sehr außergewöhnlicher Ansatz.

Er kehrt auch die Idee der Vervielfältigung um: Statt ein Unikat zu produzieren und es dann für den Verkauf druckgrafisch umzusetzen, macht er aus den Auflagenwerken wieder Unikate, indem er etwa Lebensmittel darauf druckt.
Roths Interesse gilt nicht den demokratischen oder ökonomischen Aspekten der Vervielfältigung, um Kunst unter die Leute und auf den Markt zu bringen, sondern es geht ihm von vornherein um das Formulieren eines Bildgedankens über die druckgrafischen Techniken. Gerade seine ganz frühen Drucke sind alles Unikate, er hat nur Probedrucke gemacht. Die Vervielfältigung, der eigentliche Kerngedanke der Druckgraphik, spielt da noch keine Rolle für ihn.

Später arbeitet er geradezu obsessiv in Serien. In Surtsey beispielsweise verwandelt er Blatt für Blatt die isländische Vulkaninsel in ein Stilleben in einer Schale, gemischter Kopfsalat hingegen kombiniert verschiedenste Drucktechniken miteinander. Der Titel bezieht sich auf die »gemischten« Techniken, nicht die Motive. Dieses Denken in Serien trägt etwas Überbordendes, eine gewisse Unabschließbarkeit in sich.
Das Prozesshafte und der Aspekt der Zeitlichkeit sind dem eigentlichen Resultat sogar häufig übergeordnet. Bei den Drucken nimmt das verschiedene Formen an. In den 1960er Jahren sind es die Experimente mit organischen Materialien, die sich durch Verfallsprozesse verändern. Der gemischte Kopfsalat hingegen wird erst möglich, weil Roth an einem Ort sämtliche druckgrafischen Techniken zur Verfügung stehen.

1970 gründen Dieter Roth und Karl Schulz ein Studio im Braunschweiger Stadtteil Oelper und statten es mit sämtlichen drucktechnischen Maschinen aus. Sie wählen teilweise auch ein einheitliches Format, um prinzipiell alle Drucktechniken übereinander drucken zu können.
Bis heute gibt es in der Druckgrafik eine Spezialisierung. Anstatt die jeweils angedruckten Editionen von A nach B zu transportieren und von dort wieder in die nächste, auf eine weitere Technik spezialisierte Werkstatt, konnten sie im Oelper Studio Radierung mit Siebdruck und anderen Techniken verbinden. Die Bildfindung, nicht nur die intellektuelle, sondern auch die assoziative und die durch das praktische Experimentieren, konnte also an einem Ort stattfinden. Sie kombinierten auch Vorhandenes wie bereits bestehende Druckformen und Motive miteinander und kombinierten und überarbeiteten sie neu. Das ist auch innerhalb der Druckgrafik spektakulär, aber auf einem stillen Niveau, weil das später kaum jemand so recht realisiert.

Dieter Roth, Gemischter Kopfsalat, 1977, 12 Farben / Druckgänge auf weißem Bütten, 70 x 90 cm, Aufl. 100 © Dieter Roth Estate

Roth wird oft als eine Art Antikünstler gehandelt. Die Verfallsprozesse organischer Materialien, die nicht nur einen mitunter bestialischen Gestank entwickelt haben, sondern auch die bürgerlichen Kategorien der Kunst infrage stellen: das vollendete, in sich abgeschlossene Werk, die Idee der unverrückbaren Autorschaft. Dabei hatte er eine klassische Ausbildung und scheint sich auch an traditionellen Medien und Techniken, aber auch an der Kunstgeschichte orientiert zu haben.
Ich halte deswegen den Begriff »Antikünstler« auch nicht für geeignet. In seinem Grundverständnis ist Roth ein fast traditioneller Künstler. Das materielle Werk hat einen hohen Stellenwert für ihn. Es wird signiert und bleibt, allen Veränderungsprozessen zum Trotz, am Ende doch Werk. Es geht ihm nie darum, dass es komplett verschwinden soll.

Wie kommt es zu der Festlegung auf die Lebensmittelarbeiten und die Betonung des Antikünstlerischen?
Das Lebensmittelthema ist gleichermaßen radikal wie anschaulich. Und besonders Schokolade ist ein Material, das nicht nur negativ besetzt ist. Darüber hinaus aber verbindet die verschiedensten Werkkomplexe keine klassische gemeinsame Handschrift, die eine leichte Wiedererkennbarkeit ermöglicht. Das hat es ihm in der öffentlichen Wahrnehmung immer schwer gemacht. Wenn die Leute ihn kennen, kennen sie ihn als »Schokoladenkünstler«.

Künstlerisch ist er ja eigentlich Autodidakt.
Gebrauchsgrafiker hat er deshalb gelernt, weil die Eltern letztlich nicht wollten, dass er freie Kunst studiert. Als Künstler orientiert er sich schon ganz früh an den großen Schweizer Vorbildern wie Paul Klee und Max Bill. Aber auch aus der Gebrauchsgrafik übernimmt er Grundsätzliches, nicht nur Pragmatismus und Handwerklichkeit, sondern vor allem einen Universalanspruch, Künstler, aber auch Gestalter seines gesamten Lebens zu sein. Er ist auch Filmemacher, Musiker, Dichter, Installationskünstler, aber er baut eben auch Möbel, seine eigenen, aber auch für andere, und gestaltet Schmuck.

Dieter Roth, Graphik mit Kakao, 1968, Siebdruck, neun Farben und Kakao auf weißem Karton in Plastiktasche, 70 x 100 cm, Aufl. 50
© Dieter Roth Estate

Roth bewegt sich immer zwischen Widerstand und Anpassung, technischer Perfektion und Grenzüberschreitung. Woher rührt diese Ambivalenz?
Es gibt einen ersten großen biografischen Einschnitt. Er wird 1943, mit nur 13 Jahren, aus Hannover in die Schweiz geschickt. Dort macht er die Erfahrung, dass alles, womit er aufgewachsen ist, plötzlich infrage gestellt wird. Das betrifft den Nationalsozialismus, aber auch die Sprache. Er stößt auf Widerstände. Dieser erste radikale Bruch beschäftigt ihn meines Erachtens zeitlebens, auch im positiven Sinne. Er macht damit auch früh die Erfahrung, dass es dennoch irgendwie immer weiter geht. Und diesen ersten Bruch sucht und reproduziert er später immer wieder.

Ist darauf auch sein grundleger Zweifel an dem Verstehen und der Verständigung zurückzuführen? Ein ihn zeitlebens begleitendes Thema ist ja, wie man die Welt verstehen kann und wie man Verständigung über sie erzielen kann.
Das führt zu einem kritischen Umgang mit Zeichen, nicht nur mit bildlichen, sondern auch mit sprachlichen Zeichen. Er versteht sich immer auch als Sprachkünstler und vor allem als Schriftsteller. Dichten ist ihm genauso wichtig wie Kunst zu produzieren. Für das Künstlerbuch Mundunculum entwickelt er in den 1960er Jahren eine eigenes piktogrammartiges Stempelalphabet, eine eigene Semantik. Da geht es ihm ganz konkret um das Verstehen von Bildzeichen. Er setzt sich in dem Buch auch mit der Sprachphilosophie Ludwig Wittgensteins auseinander.

Roth produziert auch sehr viele Bücher, in denen der Schriftsteller und der Künstler zusammenkommen. Hängt das druckgrafische Oeuvre auch mit dem Büchermachen zusammen?
Es ist sogar eng verzahnt. Das Künstlerbuch als Medium, wie wir es heute kennen, ist seine Erfindung. Das kann man ohne Übertreibung sagen. Er schafft einen reichen Farben- und Formenkanon, der sich durch das Blättern erschließt, etwa die frühen geometrischen Formen, die sich durch Ausstanzungen überlagern und veränderbar sind. Wie in der Druckgrafik zieht sich auch das Künstlerbuch durch sein ganzes Werk. Weil ihm beide Gattungen so wichtig sind, hat er 1979 eine Ausstellungstournee begonnen, »Grafik und Bücher«, die an verschiedenen Stationen gezeigt wurde.

Dieter Roth, Poetrie 2, 1968. Vorzugsausgabe, 18 Blätter, Buchdruck, beidseitig bedruckte Plastikbeutel gefüllt mit gefärbtem Kleister, 24 x 14,5 x 7,7 cm, Aufl. 7 © Dieter Roth Estate

Hier zeigt sich wieder sein enzyklopädischer Anspruch auf Vollständigkeit. Er hat auch seinen Förderer und Sammler Philipp Buse, aus dessen Beständen diese Ausstellung bestritten wird, beauftragt, durch gezielte Ankäufe die Sammlung zu vervollständigen, so dass sie Roths gesamtes Schaffen abbildet.
Die Ausstellungstournee wird von Band 20 und 40 der »Gesammelten Werke« begleitet. Roth fängt sehr früh an, sein Werk selbst zu katalogisieren. Er beschäftigt bereits in den 1980er Jahren eine eigene Assistentin, die für ihn den Werkatalog erarbeiten soll. Auch scheinbar abwegige künstlerische Experimente bewahrt er in der Regel auf oder deponiert sie bei Freunden oder ehemaligen Assistentinnen und Assistenten. Auch seine zufälligen Telefonzeichnungen oder vollgeschriebenen Arbeitsunterlagen widmet er später zu Kunstwerken um.

Das spricht erneut für deine Einschätzung, dass Roth gerade kein Antikünstler ist.
Roths künstlerischer Ansatz ist zwar mitunter sehr radikal und überschreitet auch die Grenzen des Erträglichen, aber es ist immer auch eine Suche nach Schönheit. Er versucht zeitlebens, eine eigene Ästhetik zu entwickeln. Das ist besonders an einigen Werken seiner sogenannten Verfallskunst gut nachvollziehbar: Faktisch handelt es sich zwar um verweste und verschimmelte Materialien, aber 30 Jahre später sind daraus vielfach wunderschöne Bilder geworden.

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Dirk Dobke ist Kunsthistoriker und Kurator. Er ist Präsident der Dieter Roth Foundation und Geschäftsführer der Griffelkunst-Vereinigung Hamburg. Gemeinsam mit Ina Jessen hat er die Ausstellung DIETER ROTH – GEPRESST GEDRÜCKT GEQUETSCHT. MATERIAL- UND DRUCKGRAFIK in der Sammlung Falckenberg kuratiert.

Veronika Schöne ist Kunsthistorikerin, Autorin und Dozentin. Sie schreibt Texte und macht Führungen, Seminare und Reisen zur Kunst.


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