Eine neue Welt

Der Fotokünstler Michael Wolf entdeckt den Horizont neu: Jeden Morgen fotografiert er den Sonnenaufgang über der Bucht von Hongkong. Ein radikaler Bruch in seinem Werk VON MARC PESCHKE

22. Januar 2019

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Claude Monets Impression, Sonnenaufgang, ein kleinformatiges Bild in Öl auf Leinwand, gilt in der Kunstgeschichte als eine der bekanntesten Darstellungen eines Sonnenaufgangs. Monet malte es im Jahr 1872 – es gab der Stilrichtung des Impressionismus seinen Namen. Monets Werk, das den Hafen von Le Havre früh am Morgen zeigt, mit seinem Frühnebel, den Schiffen vor Anker und der aufgehenden Sonne, ist ein impressionistischer Traum aus Violett, Blau und Orange – ein Bild, dass nicht so sehr komponiertes Kunstwerk sein will, als vielmehr: unverfälschter, momenthafter Natureindruck – reine Atmosphäre.

Da ist ein Flimmern in diesem von einem Hotelzimmer aus geschaffenen Werk, eine Skizzenhaftigkeit, die für Empörung sorgte: Die meisten Betrachter konnten damit nichts anfangen – die Impressionisten waren zu neu für ihre Sehgewohnheiten.

Wie anders ist das heute: Betrachtet man Monets Werk mit zeitgenössischen Augen, so versteht man die Kritik an dem Bild kaum. Nicht der Abstraktionsgrad, die Spontaneität und Skizzenhaftigkeit ist heute ein Problem, sondern die Nähe zu dem, was bisweilen als Kitsch aufgefasst wird. Sonnenaufgänge und Sonnenuntergänge sind in der Bildenden Kunst nicht mehr en vogue. Im Impressionismus und auch noch im Expressionismus war das anders: Die Darstellung solcher Naturphänomene galt als Gleichnis – als Spiegel der Seele.

Michael Wolf, Cheung Chau Sunrises, 2018 © Michael Wolf

Gerade in der Fotografie sind Sonnenaufgänge und Sonnenuntergänge ein beliebtes Thema für den passionierten Fotografen geblieben – das Netz ist voller Tipps, wie man mit wenig Licht die Schönheit der Natur einzufangen vermag. Allein auf Instagram finden sich über 55 Millionen Fotos, die mit dem Hashtag #sunrise versehen wurden. Auch Michael Wolf widmet sich in seiner 2018 entstandenen Serie Cheung Chau Sunrises dem Thema des Sonnenaufgangs – wissend, dass er damit fotokünstlerische Tabugrenzen berührt.

Vom Dach des Hauses seiner Wohnung auf der Insel Cheung Chau – die Hongkong vorgelagert ist – fotografiert er die Bucht von Hong Kong Island jeden Morgen zwischen 5.30 Uhr und 7.30 Uhr. Für Wolf, der seine Serie stets in Großstädten fotografierte, ist diese Serie ein Neuanfang – oder, wenn man so will, auch einem Abschluss seiner Großstadtserien.

In der Präsentation im Haus der Photographie verdichtete Michael Wolf die Serie zu einem großflächigen Tableau, das fast sieben Meter lang und mehr als zwei Meter hoch ist: Kleinformatige Abzüge der frühmorgendlich entstehenden Bilder wurden dicht an dicht an die Ausstellungswand gepinnt. Was zuerst auffällt, in diesem All Over aus Sonnenaufgängen, ist die Unterschiedlichkeit der Bilder. Sich stets verändernde Wetter- und Lichtverhältnisse sorgen für immer neue Wolkenformationen und Farben: eine stets neue Welt eröffnet sich jeden Morgen.

Michael Wolf, Cheung Chau Sunrises, 2018, in der Ausstellung MICHAEL WOLF – LIFE IN CITIES Foto: Henning Rogge/Deichtorhallen Hamburg

Doch gibt es auch sich durchgängig wiederholende Elemente: Stets ist es ein sehr weiter Himmel, den Wolf uns zeigt. Die Horizont-Zone ist ganz schmal: Der Himmel ist das eigentliche Sujet dieser Fotografie, die sich als konzeptionell gehängte Serie zu einem Langzeitdokument verdichtet, das sich aus der Sphäre des Kitsches sehr leichtfüßig verabschiedet. Aus der Distanz betrachtet, zählt nicht mehr so sehr der einzelne Himmel, der einzelne tropische Sonnenaufgang, sondern das Miteinander der vielen Momente. Insgesamt 118 Bilder umfasst die in den Deichtorhallen erstmalig gezeigte Präsentation – fotografiert an 118 Tagen. Doch das Projekt ist damit noch nicht zuende: Wolfs Ziel ist es, an jedem Tag des Jahres den Sonnenaufgang zu fotografieren.

Wenn Michael Wolf über die neue Serie der Cheung Chau Sunrises spricht, dann betont er die Schönheit der Naturphänomene. Diese zu fotografieren stellt für den Fotokünstler einen radikalen Bruch dar. Vollkommen neu ist für ihn die Entdeckung des Horizonts, eine »Wendung um 180 Grad«, wie er selbst sagt, die dennoch in sein Werk, in seine Geschichte passe.

Michael Wolf, Cheung Chau Sunrises, 2018 © Michael Wolf

War es früher der Platzmangel in Städten, das urbane Leben auf engstem Raum, den Wolf interessierte, so ist es nun die Weite der Himmel. Der Hintergrund der neuen Serie ist auch ein persönlicher: Der Umzug von Hongkong auf die Insel war wichtig für ihn, sagt Wolf, der allerdings darauf hingewiesen hat, dass Cheung Chau auch als »Selbstmordinsel« bekannt ist, auf der viele junge Paare gemeinsam aus dem Leben scheiden.

Doch das sieht man seinen Bildern nicht an: Cheung Chau Sunrises ist eine Serie, die sich radikal quer stellt zu allem, was Michael Wolf vorher gemacht hat. Seine Serien Architecture of Density, Life in Cities oder Tokyo Compression zeigen den urbanen Dichtestress, zeigen Wohnzellen asiatischer Megacities. In seiner neuen Serie ist der Mensch nun gar nicht mehr zu sehen – mit ihm schwindet auch der soziale, politische Aspekt in der fotografischen Arbeit von Michael Wolf, der seinem Werk von Anfang an, seit seiner Serie über das Kohlebergbaudorf Bottrop-Ebel aus dem Jahr 1976, immanent war.

Marc Peschke, 1970 geboren, Kunsthistoriker, Autor und Künstler, lebt in Wertheim am Main und Hamburg. Seit 2008 zahlreiche eigene Ausstellungen im In- und Ausland. Marc Peschkes künstlerische Arbeiten entstehen zumeist auf seinen zahlreichen Reisen und sind in verschiedenen nationalen und internationalen Sammlungen vertreten.

Die Ausstellung MICHAEL WOLF – LIFE IN CITIES ist noch bis zum 3. März im Haus der Photographie zu sehen.
Das Buch zur Serie Cheung Chau Sunrises erscheint Mitte Februar im Verlag Buchkunst Berlin. 104 Seiten mit ca. 80 Abbildungen, fester Leineneinband. Zusätzlich wird auch eine Vorzugsausgabe mit Print in kleiner Auflage erscheinen.


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