Otto Steinert und Michael Wolf, 1974 Foto: Archiv Michael Wolf

"Ich lasse alles gelten, was Qualität hat"

Der Fotograf und Ausstellungsmacher Otto Steinert hat die deutsche Nachkriegsfotografie maßgeblich geprägt. Als strenger Lehrer wies er einer ganzen Fotografen-Generation den Weg. Auch Michael Wolf war einer seiner Schüler VON ULRICH RÜTER

5. Februar 2019

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Otto Steinert lebt. Der legendäre Lehrer, Fotograf und Ausstellungsmacher (1915-1978), der wie nur wenige die deutsche Nachkriegsfotografie prägte, mag die digitale Revolution zwar um Jahrzehnte verpasst haben. Dafür ist er jetzt auf Instagram zu finden. Doch es ist nicht etwa Steinert selbst, der als @otto_steinert aus dem Jenseits postet. Hinter dem Kanal steckt ein ehemaliger Schüler: der Fotograf Michael Wolf veröffentlicht auf der Foto-Plattform eigene Bilder unter dem Namen Steinerts. Es ist eine digitale Hommage auf den großen Fotolehrer, dessen Name untrennbar mit der Folkwangschule für Gestaltung in Essen verbunden ist, wo er bis zu seinem Tod die Werkgruppe Fotografie leitete.

Seit 1959 hat Otto Steinert als Lehrer in Essen unzählige Studenten der Fotografieklasse geprägt, die in den »goldenen« Jahre der nationalen und internationalen Magazine als Fotografen den Bildjournalismus bestimmten: so lernten unter anderem André Gelpke, Gerd Ludwig, Guido Mangold, Rudi Meisel, Angela Neuke, Timm Rautert, Dirk Reinartz, Heinrich Riebesehl und Peter Thomann ihr Handwerk bei Steinert – genau wie ein junger Fotograf namens Michael Wolf, der für sein Studium an der Folkwangschule aus dem amerikanischen Berkeley nach Deutschland gezogen war. Vier Jahre studierte Wolf in Essen, seine Abschlussarbeit Bottrop-Ebel 76 gefiel Steinert. Sie war thematisch relevant, da zu dieser Zeit der Strukturwandel im Ruhrgebiet bereits wahrgenommen werden musste – ein Prozess der erst im letzten Jahr mit der Schließung der letzten Zeche in Bottrop abgeschlossen wurde. Zugleich war der fotografische Ansatz der Serie spannend, zeigte sie doch stellvertretend anhand einer kleinen überschaubaren sozialen Einheit die komplexen Beziehungen innerhalb einer typischen Bergarbeitersiedlung. Noch heute erzählen die klassischen analogen Abzüge von der präzisen Dunkelkammertechnik, die Otto Steinert von all seinen Schülern einforderte.

Fritz Kempe (1909–1988), Otto Steinert, 1970, Silbergelatinepapier, 60,3 x 43 cm,
Museum für Kunst und Gewerbe Hamburg. Mit freundlicher Genehmigung von Erika Kempe

Der Begriff des »Schülers« entsprach dabei genau den Vorstellungen des »Meisters«. Über die Lehrpraxis und Attitüden Steinerts gibt es unzählige Anekdoten und Erfahrungs-, manchmal auch Leidensberichte. Steinert musste man aushalten können. »Herzchen, sieh´ zu wie Du klarkommst«, ist eines seiner kolportierten Zitate. Für heutige pädagogische Konzepte war er nicht empfänglich, das ehemalige NS-Partei- und Wehrmachtsmitglied Steinert gab sich autoritär, misogyn und egomanisch. Seine professorale Autorität wusste er entsprechend zu zelebrieren: immer im grauen Laborkittel, gerne mit qualmender Zigarre, ließ er sich die Ergebnisse der Laborarbeit seiner Studenten vorlegen. Als Lehrer erwartete er überzeugende Bilder, wie sie entstanden waren, interessierte ihn dabei nicht. Sein Urteil stets knapp und nicht diskutierbar – Abzüge wurden von ihm gefaltet oder gar zerrissen. Den legendären »SCHEISSE«-Stempel, den man ihm schenkte, soll er hingegen nur selten und ironisch eingesetzt haben.

»Über die Lehrpraxis und Attitüden Steinerts gibt es
unzählige Anekdoten und Erfahrungs-, manchmal auch Leidensberichte. Steinert musste man aushalten können«

Die Lehrpraxis musste sich im Laufe seiner Tätigkeit aber dennoch den sich verändernden Gebrauchsweisen der Fotografie, aber auch den veränderten gesellschaftlichen Themen anpassen. In der Spätphase seiner Lehrtätigkeit, in der auch Michael Wolf bei Steinert studierte, schien sich das Gespür für die aktuellen Probleme und Bedürfnisse seiner Studenten zu verringern. Als Bildkritiker blieb er gefragt, weniger aber als Impulsgeber.

Steinert galt in seiner Arbeit als äußerst penibel. Jedes Detail der Dunkelkammerarbeit notierte er auf so genannten »Waschzetteln«, die den Negativbögen angefügt wurden. Dieser präzise analytisch-wissenschaftliche Ansatz wird dabei gern Steinerts Erfahrungen aus seinem Erstberuf zugeschrieben. Zwar hatte sich Steinert schon als Jugendlicher für die Fotografie begeistert, schloss aber zunächst ein Medizinstudium ab. Während des Zweiten Weltkriegs war er als Stabsarzt tätig. Erst 1947 widmete er sich ganz der Fotografie: zunächst als Theaterfotograf in Saarbrücken, bevor er dort an der Staatlichen Schule für Kunst und Handwerk zu lehren begann. Zusammen mit Wolfgang Reisewitz, Ludwig Windstoßer und Toni Schneiders gründete er eine Arbeitsgemeinschaft, die kurz danach als Gruppe fotoform für Aufsehen sorgte. Siegfried Lauterwasser und Peter Keetman schlossen sich der Gruppe an, 1951 ebenso Heinz Hajek-Halke und Christer Christian.

Otto Steinert, Ein-Fuß-Gänger, 1951, Silbergelatine, 21 x 30,1 cm. Nachlass Otto Steinert, Museum Folkwang, Essen. Foto: © Museum Folkwang Essen – ARTOTHEK

Schon die erste große Ausstellung auf der Kölner photokina 1950 erregte überregionale Aufmerksamkeit; es folgten drei Ausstellungen unter dem Titel subjektive fotografie in Saarbrücken (1951 und 1954) sowie in Köln (1958), die dann auch international tourten. Mit dem Wiederaufgreifen experimenteller Arbeitstechniken, die zum Repertoire der fotografischen Avantgarde der Zwanzigerjahre zählten, unternahm die »subjektive fotografie« den Versuch, die künstlerischen Möglichkeiten des Mediums zu betonen. Doppelbelichtungen, Montagen, Solarisationen, Langzeitbelichtungen oder starke Kontrastwirkungen sind Merkmale dieser autonomen Fotografie. Das Streben nach Entgegenständlichung entsprach dabei durchaus den Tendenzen abstrakter Expressivität in der Nachkriegskunst. Steinerts eigenes Werk wurde vor allem auch durch Bewegungsunschärfen, Negativmontagen und Fotogramme geprägt. Seine Aufnahmen zeichnen sich durch kontrastreiche Licht-Schatten-Kompositionen aus, bisweilen dominiert ein tiefes Schwarz seine Motive. Durch bewusste Verfremdungen emanzipierte er sich von der schlichten Dokumentations- und Abbildfunktion der Fotografie und propagierte die Rolle des Fotografen als autonomem Gestalter.

Nach dem Wechsel an die Folkwangschule Essen verlagerte sich Steinerts Interesse weg von den Tendenzen der »subjektiven fotografie« hin zu einer mehr angewandten Fotografie des Bildjournalismus und der Industriefotografie. Auch sein eigenes Werk wurde nun wieder stärker von objekthafter Wiedergabe seiner Sujets geprägt, wobei er sein eigenes Werk mehr und mehr hinter seine Aufgaben als Lehrer stellte. Zweifellos hat Steinert von seinen Schülern ein hohes Maß der Anpassung an seine hohen ästhetischen Qualitätsmaßstäbe eingefordert, doch neben einer hohen künstlerischen Sensibilität und technischen Präzision hat er stets zugleich auch die Selbstwahrnehmung und das Selbstbild der Fotografen als Autoren gefördert. »In einer Zeit, als der Fotograf noch häufig als Zulieferer von visuellem Rohmaterial gesehen wurde, wollte er nicht nur die Wertschätzung einzelner Arbeiten analog zur Kunst erreichen, sondern ebenso seine Anerkennung als kreativer Autor, der komplexe Bildaussagen formuliert,« so die Einschätzung von Thilo Koenig in dem Ausstellungsband Otto Steinert und Schüler von 1990.

In seinem eigenen Werk hat er seine Vorstellungen einer künstlerischen Gestaltung konsequent umgesetzt, kein Wunder also, dass heute seine durchaus überschaubaren Abzüge auf dem Kunstmarkt im Vergleich zu anderen Fotografen dieser Zeit zu hohen Preisen gehandelt werden. Die von ihm aufgebaute Sammlung und auch sein eigener fotografischer Nachlass sind heute im Folkwang Museum in Essen untergebracht. Die dortige fotografische Sammlung, die lange von seiner Assistentin Ute Eskildsen betreut wurde und heute von Thomas Seelig geleitet wird, zählt zu den bedeutendsten fotografischen Kollektionen in Deutschland.

Was ein analoger Vermittler und kompromisslosen Gestalter wie Otto Steinert von Entwicklungen wie Instagram gehalten hätte, lässt sich nur vermuten. Womöglich aber hätte er angesichts der Bilderflut von seinem Stempel öfter Gebrauch gemacht, als ihm liebgewesen wäre.

Ulrich Rüter, 1965 geboren, Fotografie- und Kunsthistoriker, lebt in Hamburg. Als freier Autor, Dozent und Kurator arbeitet er für zahlreiche Magazine und Institutionen, so u.a. auch für die Hamburger Deichtorhallen, zuletzt als kuratorischer Berater der 7. Triennale der Photographie Hamburg.

Die Ausstellung MICHAEL WOLF – LIFE IN CITIES ist noch bis zum 3. März im Haus der Photographie zu sehen.

»Durch bewusste Verfremdungen emanzipierte er sich von der schlichten Dokumentations- und Abbildfunktion der Fotografie und propagierte die Rolle des Fotografen als autonomem Gestalter«

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